Fünf mal sieben Meter groß sind die schwarz-rot-goldenen Fahnen, die bei Wind und Wetter auf jedem der vier Türme auf dem Reichstag wehen. Noch größer, nämlich sechs mal zehn Meter, ist die "Fahne der Einheit" am Westeingang des Gebäudes, drei mal fünf Meter die übrigen Flaggen vor den Eingängen zum Reichstag.
Im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus des Deutschen Bundestags sitzt einer, der sich von Berufs wegen damit auskennt: Dirk Kunze, 31 Jahre alt und so etwas wie Deutschlands oberster parlamentarischer Flaggenhüter. Jedes Mal, wenn eine Fraktion oder auch nur ein einzelner Mitarbeiter des Bundestages einen ausländischen Gast erwartet, bekommt der gebürtige Leipziger Nachricht davon. Er erfährt, aus welchem Land der Besuch kommt, wie lange er bleibt und wo er empfangen werden soll. Mit diesen Informationen in der Hand sorgt er dafür, dass die entsprechenden Landesfahnen überall dort gehisst und aufgestellt werden, wo sie hin gehören: nämlich mindestens an die mittleren Masten vor den beiden Haupteingängen des Reichstags. Zusätzlich wird ausländischer Besuch in aller Regel aber auch in den Räumen, in denen er empfangen wird, mit einer Fahne begrüßt - und zwar entweder mit einer richtig großen, die an einem 3,60 Meter hohen Mast gehisst wird oder, wenn der Raum zu niedrig ist, mit einer kleinen Tischfahne. Vorrätig hat der Bundestag - dafür hat Dirk Kunze inzwischen gesorgt - nahezu jede der mehr als 200 Landesflaggen weltweit. Fehlt doch einmal eine in der gewünschten Größe, hilft ein professioneller Flaggenverleih aus.
Offiziell heißt Dirk Kunzes Job natürlich nicht Fahnenbeauftragter, sondern Plenarsekretär im Fachbereich Logistik. Aber an seiner Tür steht "Frack- und Flaggenstelle". Wer ihn hinter dieser Tür in seinem kleinen Büro besucht stellt dort schnell fest, dass dem 31-Jährigen fremde Länder alles andere als fremd sind: An den Wänden zum Beispiel hängt ein Plakat mit dem Profil Martin Luther Kings und eine historische Werbung für ein Übersee-Schiff nach New York. Ausgerechnet 2001 hatte Dirk Kunze sich für einen einjährigen Aufenthalt in New York beurlauben lassen. Das Miterleben des 11. September war eine der prägendsten Erfahrungen seines damals 25-jährigen Lebens. "So etwas lässt einen nicht unberührt", erzählt er, "zu erleben, wie der Anschlag das ganze Land ins Mark getroffen und verändert hat, war eine enorm intensive Erfahrung." Zurück in Berlin beschloss er, sein Leben wenigstens zur Hälfte zu verändern - er reduzierte seine Arbeitszeit im Bundestag und nahm zusätzlich ein Studium der Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin auf. "Meine Arbeit macht großen Spaß", sagt er, "aber nach New York war für mich die Zeit gekommen, noch einmal einen neuen Bildungsweg einzuschlagen." Heute steht er ein Jahr vor dem Diplom. Was danach komme, sagt er, sei völlig offen.
Dem Bundestag ist er schon lange treu. Mit 19 Jahren trat er nach zweijähriger Beamtenausbildung in Sachsen seine Stelle in Bonn an. Damit war er jünger als die meisten Praktikanten. Auch wenn er von den Plenarsekretären noch heute einer der Jüngsten ist, entpuppt er sich im Gespräch schnell als eindeutiger Verfechter von Traditionen: Dass im Plenarsaal bis heute Frack getragen wird, ist für Dirk Kunze nicht nur eine Selbstverständlichkeit, sondern auch eine Tatsache, der zu Ehren er vor zwei Jahren eine Jubiläumsschau entworfen hat: Zum fünfzigsten Jahrestag des "Saaldieners im Frack" organisierte er dem Kleidungsstück samt seiner Parlamentsgeschichte eine Ausstellung im Reichstagsgebäude. "Ich finde es wichtig, dass Geschichte vermittelt und Traditionen bewahrt werden", sagt er, "und dafür muss man auch etwas tun."
Wie auch dafür, dass nie die falsche Fahne gehisst wird. Fragt man ihn, ob das je vorkomme, guckt er, der eigentlich nicht so wirkt, als könne ihn schnell etwas erstaunen, doch ein bisschen verblüfft: "Nein! Dafür arbeiten wir doch hier."