Ava Milner
ist einer von acht Millionen Bewohnern von »Second Life«. Eigentlich heißt er Sven Stillich und ist Redakteur des »Stern«. Sein Buch erzählt von diesem virtuellen Leben.
Folgt man der Berichterstattung der vergangenen Woche, so droht der virtuellen, dreidimensionalen Online-Welt "Second Life" angeblich eine Verödung. Die Zahl der täglich eingeloggten Nutzer läge gerade mal bei 25.000, obwohl die Zahl der insgesamt registrierten Nutzer mit über acht Millionen angegeben wird. War "Second Life" nur ein weiterer Hype in der Geschichte des Internets, der seinen Höhepunkt bereits wieder überschritten hat?
Ich glaube, dass man trennen muss zwischen "Second Life" selbst und dem, was es repräsentiert. Was aus "Second Life" werden wird, kann ich nicht sagen. Aber das Prinzip, dass sich Menschen mit einer künstlichen Figur, einem Avatar, durch dreidimensionale Welten bewegen, das wird sicherlich erhalten bleiben.
Sie haben sich in Gestalt ihres Avatars Ava Milner auf eine Reise durch die Welt von "Second Life" begeben. Wie lange hat diese Reise gedauert, um Ihr gleichnamiges Buch zu schreiben, das von den Erlebnissen Ava Milners erzählt?
Die Reise begann im Dezember vergangenen Jahres, und das Buch war Ende Mai fertig gestellt. Aber die Reise dauert noch an. Ava Milner ist immer noch vor Ort und schaut sich an, wie sich diese Welt weiter entwickelt und wie die Menschen dort miteinander agieren.
Können Sie beschreiben, was die Faszination von "Second Life" ausmacht?
Zunächst ist es die gleiche Faszination, die auch von einem Chatroom im Internet ausgeht, das heißt die Möglichkeit, mit ganz unterschiedlichen Menschen überall auf der Welt zu kommunizieren und sie auch kennen lernen zu können. Das ist nicht nur ein oberflächlicher Kontakt zwischen Pixel-Figuren. Zweitens ist es spannend zu sehen, was Menschen erschaffen können, wenn man ihnen die Möglichkeit dazu gibt. In "Second Life" kann jeder das erbauen - Gebäude zum Beispiel -, wozu ihn seine Kreativität und sein Talent befähigen. Und es ist faszinierend zu beobachten, wie viele Geschichten "Second Life" generiert. Sie können auf einem fliegenden Teppich reisen, das virtuelle Japan besuchen und Abenteuer erleben. Ich traf zum Beispiel einen spanischen Katholiken, der die erste Moschee in "Second Life" erbaute - zunächst eigentlich nur, weil er die Architektur schön fand. Plötzlich kamen viele Moslems zu dieser Moschee, um zu beten. Und schließlich versuchten Nazis - erfolglos -, die Menschen von diesem Ort zu vertreiben. Das sind spannende und faszinierende Geschichten.
Damit wären wir bei der Politik. Nach dem Siegeszug des Internet entdeckten Parteien und Institutionen das Netz schnell für ihre Zwecke. Werden wir 2009 den ersten Bundestagswahlkampf in "Second Life" erleben?
Der Wahlkampf in Frankreich wurde bereits auch in "Second Life" ausgetragen. Und die Demokraten und Republikaner in den USA nutzen "Second Life" ebenfalls. Ich denke nicht, dass es erfolgversprechend ist, dort tiefergehende politische Inhalte zu verbreiten. Allerdings bietet "Second Life" die Möglichkeit, die Menschen direkter anzusprechen. So wie es Lokalpolitiker bei einem Gang über den Wochenmarkt machen.
Können wir Bundeskanzlerin Angela Merkel also bald als Avatar in "Second Life" bewundern?
In "Second Life" wohl eher nicht mehr. Da waren andere Prominente wie Rainer Calmund schneller. Ich glaube, sie ist zu klug, das jetzt noch zu machen, nachdem viele Menschen diese Plattform ja durchaus auch kritischer bewerten als in der Anfangszeit.
Diese Kritik ist seit Anfang des Jahres nach Berichten über die Verbreitung von Kinderpornografie lauter geworden. In der vergangenen Woche war nun von einem "terroristischen Anschlag" in "Second Life" und dem Zusammenbruch einer virtuellen Bank, bei dem immerhin 700.000 reale US-Dollar vernichtet worden seien, zu lesen. Zeigt sich hier einmal mehr der deutsche Reflex, sich auf die negativen Aspekte einer neuen Technologie zu konzentrieren?
Ob das typisch deutsch ist, sollten andere beurteilen. Aber man kann viel über Journalismus lernen, wenn man die Berichterstattung über "Second Life" verfolgt. Zunächst gab es einen großen Hype: "Das ist die Zukunft", konnte man überall lesen. Es wurde von einer "Goldgrube" gesprochen, in der auch normale Nutzer zum Millionär werden könnten. Plötzlich drehte sich der Wind. So wie anfänglich nur über die vermeintlich positiven Aspekte von "Second Life" berichtet wurde, so werden jetzt die negativen hervorgehoben. Vor allem von Journalisten, die sich nur Agentur-Meldungen bedienen und "Second Life" selbst noch nie besucht haben.
Ich habe für mein Buch über diese vermeintliche Terrorgruppe, die sich selbst "Second Life Liberation Army" nennt, recherchiert. Die wollen mit realem Terror überhaupt nichts zu tun haben, lehnen ihn strikt ab. Sie wollen mit ihren virtuellen Bombenanschlägen lediglich Aufmerksamkeit erregen, gegen den Einfluss großer Konzerne in "Second Life" protestieren und die Betreiberfirma Linden Lab zu einer Demokratisierung ihrer virtuellen Welt bewegen, in der bislang ausschließlich sie die Regeln aufstellt.
Sie geben den für 2007 erwarteten Jahresumsatz der Betreiberfirma Linden Lab mit 30 Millionen US-Dollar an. Und täglich würden in "Second Life" bis zu 1,7 Millionen US-Dollar den Besitzer wechseln. Ist "Second Life" vor allem nicht einfach eine sehr lukrative Geschäftsidee? Oder bietet es einen realen Nutzen darüber hinaus?
Es gibt wesentlich lukrativere Geschäftsideen. Ich glaube nicht, dass Linden Lab mit "Second Life" wirklich riesige Gewinne macht. Die technische Infrastruktur, die Wartung und Weiterentwicklung sind sehr kostenintensiv. Neben den wirtschaftlichen Aspekten bietet "Second Life" aber zum Beispiel der Forschung große Möglichkeiten. Sie kann dort neuartige Lernumgebungen schaffen und wissenschaftliche Simulationen abbilden. Aber wenn ich "Second Life" sage, meine ich nur das Prinzip dreidimensionaler Welten - es gibt inzwischen viele Nachahmer. IBM etwa erschafft derzeit eine ähnliche Welt und will diese für ihre Entwicklungen nutzen. "Second Life" ist erst der Anfang.
Sie verfolgen als Journalist die Entwicklung des Internet bereits seit einigen Jahren. Können Sie abschätzen, wie sich "Second Life" oder ähnliche Welten in den nächsten Jahren entwickeln werden?
Ob sich "Second Life" als Standard durchsetzen wird, entscheidet sich in den nächs-ten Monaten. Ich denke, dass in den kommenden Jahren eine Vielzahl ganz unterschiedlicher, dreidimensionaler Welten entstehen wird. Auch deshalb, weil dafür jetzt Geld zur Verfügung steht. Diese Welten werden stark differenzieren: angefangen von Angeboten für Kinder über explizite Rot-licht-Welten bis hin zu dreidimensionalen Welten für kleinste Communities wie etwa Skatspieler. Ich bin selbst sehr gespannt, wie sich das Prinzip, dass sich Menschen mit einem Avatar in diesen Welten abbilden, weiter entwickeln wird. Vielleicht wird man zukünftig mit einem Avatar von einer 3D-Themenwelt zur anderen springen können. Das sind spannende Fragen.
Das Interview führte Alexander Weinlein.
Second Life. Wie virtuelle Welten unser Leben verändern.
Ullstein Buchverlag, Berlin 2007; 222 S., 7,95 ¤