DER GRÜNE PUNKT
Für viele steht er bereits vor dem Aus. Die Regierung hat einen Rettungsversuch gestartet - das ist umstritten.
Wenn erst einmal Sahne und Tortenguss dran klebt oder Mayonnaise, dann, da ist sich Peter Becker sicher, schmeißt doch kein Mensch mehr sein Einwickelpapier vom Bäcker oder Metzger in die Gelbe Tonne. "Das landet im ganz normalen Hausmüll", weiß der Präsident des Zentralverbands des Deutschen Bäckerhandwerks. Und genau da beginnt für ihn das Problem.
Die Bäcker laufen Sturm gegen einen Plan von Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD), für Brötchentüten und Wickelpapier künftig Lizenzgebühr an den Grünen Punkt zu verlangen, damit diese - wie Joghurtbecher oder Nudeltüten auch - über die Gelbe Tonne entsorgt werden können. Das sei "Abzocke", sagt Becker, und "staatlich lizenzierte Beutelschneiderei", weil der Grüne Punkt keine Gegenleistung erbringen müsse. Und überhaupt: "Der Grüne Punkt hat sich überlebt", sagt der Verbandspräsident. Er sei teuer, funktioniere kaum und fülle anonymen Investoren die Taschen. "Eigentlich muss das ganze System überarbeitet werden."
Becker ist bei weitem nicht der Einzige, der das glaubt. Der Grüne Punkt und die Gelbe Tonne stehen unter Beschuss. Einige Experten haben sie bereits für tot erklärt. "Die Gelbe Tonne kommt in den Müll", verkündete die "Wirtschaftswoche" im August. Der Zusammenbruch des Systems sei nur eine Frage der Zeit. Auch für die Grünen im Bundestag "stellt sich zunehmend die Frage nach der Zukunft der Dualen Systeme und ihrer ökologischen Vorteilhaftigkeit". Und der Kasseler Abfallexperte Professor Klaus Wiemer hat die Prognose abgegeben: "Ich gehe davon aus, dass der gelbe Sack über kurz oder lang überflüssig wird."
Genau das versucht Minister Gabriel mit seiner "Fünften Verordnung zur Änderung der Verpackungsverordnung" zu verhindern. Die Novelle diene dazu, die "bewährte haushaltsnahe Sammlung" langfristig zu sichern, erklärte der SPD-Politiker zum Kabinettsbeschluss am 19. September. Dadurch, dass für alle Verpackungen, die bei privaten Endverbrauchern landen, künftig Lizenzgebühren gezahlt werden müssen, würden die "nicht mehr hinnehmbaren Wettbewerbsverzerrungen durch Trittbrettfahrerinnen und Trittbrettfahrer" unterbunden. Mit anderen Worten: ein gutes System, das nur etwas nachjustiert und fortentwickelt werden muss.
Tatsächlich startete das vom einstigen Umweltminister Klaus Töpfer (CDU) ersonnene Konzept gegen den Müllnotstand 1991 mit großen Ambitionen. Erklärtes Ziel war damals die "Abkehr von der Wegwerfgesellschaft", wie es in der offiziellen Darstellung des Bundesumweltministeriums heißt. Erstmals wurden Hersteller und Handel verpflichtet, die von ihnen verkauften Verpackungen nach Gebrauch zurückzunehmen.
Von ihrer individuellen Pflicht zur Rücknahme befreiten sich die Unternehmen mit einem Kniff: Anfang der 90er-Jahre ging das Duale System Deutschland (DSD) an den Start. Die Wirtschaft zahlte an die Kölner Firma eine Gebühr und durfte dafür den Grünen Punkt auf die Verpackungen drucken. Das DSD organisierte die Rücknahme mit Partnern in den Kommunen. Erstmals gab es neben der staatlichen Müllabfuhr eine zweite, private und neben der grauen Mülltonne eine neue gelbe.
Es begann die Zeit der sauber ausgespülten Joghurtbecher, die fein gestapelt in die Gelbe Tonne oder den Gelben Sack wanderten, die Zeit der doppelten Müllbehälter unter der Küchenspüle. Das leichte Müffeln des Gelben Sacks in der Speisekammer wurde mit gutem Umweltgewissen kompensiert: 1998 gaben in einer Untersuchung der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) 94 Prozent der Befragten an, sie trennten ihren Abfall. Recycling sei die beste Art der Müllbehandlung, verkündet das DSD heute noch stolz auf seiner Internetseite. Rund fünf Millionen Tonnen "Wertstoffe" jährlich oder 63 Kilo pro Kopf sammelte fortan das DSD. Die Verbraucher zahlen dafür statistisch gesehen derzeit 18,20 Euro pro Jahr und Kopf an der Ladenkasse drauf.
Kritik an dem System gab es allerdings von Anfang an. So wurden schnell Zweifel an der Ökobilanz laut, weil der mit frischem Trinkwasser gereinigte Joghurtbecher bestenfalls geschreddert und "downgecycelt" wurde, also zu einem minderwertigeren Material für Gartenbänke oder Schallschluckwände verarbeitet wurde. Die zu Lizenzgebühren verpflichteten Hersteller und Händler kritisierten, der Monopolist DSD diktiere zu hohe Preise und sammele - obwohl eigentlich als Non-Profit-Unternehmen konstruiert - riesige Summen an. Bis 2005 soll das DSD Medienberichten zufolge mehr als 800 Millionen Euro auf der hohen Kante gehabt haben.
Doch waren da die ruhigen Zeiten für das Duale System Deutschland schon vorbei. Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs, auch hier Wettbewerber zulassen zu müssen, etablierten sich bis 2003 Firmen wie Landbell und Interseroh als Konkurrenten. Sie boten unter anderem Drogerieketten wie "dm" so genannte "Selbstentsorger"-Konzepte an - also den Ausstieg aus dem Grünen Punkt. 2003 kam aus Sicht des DSD der zweite Schlag: Mit dem Dosenpfand und dem neuen Rücknahmesystem fielen Millionen Einweg-Getränkepackungen aus der Lizenzpflicht. Für den Nicht-Mehr-Monopolisten begannen schwierige Zeiten, was allerdings private Investoren nicht abschreckte: 2005 wurde das DSD an den US-Investmentfirma Kohlberg Kravis Roberts (KKR) verkauft.
Seitdem scheint das System unter Dauerfeuer. So äußerte der damalige stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Michael Müller schon im Juni 2005 die Sorge, mit dem Verkauf an KKR sei der Non-Profit-Charakter gekippt. Zum anderen begann nun eine breite Debatte über "Fehlwürfe": der Joghurtbecher mit Grünem Punkt, der fälschlich in der grauen Tonne landet, die Aluminiumfolie vom Pausebrot, die eigentlich nicht in die Gelbe Tonne darf. In der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Grünen erklärte die Bundesregierung im Frühjahr 2007, dass letztlich rund die Hälfte des Materials in der grauen Mülltonne dort gar nicht hingehöre. Das bayerische Landesamt für Umweltschutz habe 2002 bei einer Restmüllanalyse bis zu 54 Prozent "Wertstoffanteile" gefunden - organischen Abfall, Papier, Pappe, Karton oder Kunststoffe. Der Anteil von Verpackungen lag bei etwa 15 Prozent. Die wanderten - ob mit Grünem Punkt oder ohne - auf den Müll statt zum Recycling. Gleichzeitig landeten von Anfang an große Mengen Unrat ohne den Grünen Punkt in der Gelben Tonne. Schon 1996 bezifferte das Abfallwirtschaftskonzept der Stadt Düsseldorf die Fehlwurfquote auf 30 Prozent.
Inzwischen gehen Untersuchungen einzelner Bundesländer davon aus, dass 40 bis 60 Prozent des Inhalts der Gelben Tonne dort gar nicht hinein gehören. "Haben Sie schon mal ihre leere Zahnpasta-Tube zur Drogerie zurückgebracht?" fragt der SPD-Abgeordnete Gerd Friedrich Bollmann. "Sehen Sie, ich auch nicht." Hier rutscht mal eine Windelverpackung aus der Drogerie mit in die Gelbe Tonne, dort ein Getränkekarton, bei dem sich der Hersteller den Lizenz-Cent gespart hat. Nach Angaben der Bundesregierung wird der Anteil der Produkte von "Totalverweigerern", die überhaupt nichts für die Abfuhr ihrer Verpackung bezahlen, inzwischen auf 24 Prozent geschätzt. Dazu kommen Selbstentsorger und Pfandbehälter. Letztlich wird nur noch für 59 Prozent der Verpackungen die Entsorgung über den Grünen Punkt bezahlt.
"Verwertet" wurden nach einer Studie der Gesellschaft für Verpackungsmarktforschung 2004 von insgesamt 12,9 Millionen Tonnen Verpackungen - Glas, Weißblech, Aluminium, Kunststoff, Papier und Getränkekartons - immerhin 80 Prozent. Von den verwerteten 10,36 Millionen Tonnen Verpackungen liefen aber nur 40 Prozent über das DSD. Außerdem weist das Grüne-Punkt-System, auch das geht aus der Antwort der Bundesregierung hervor, inzwischen immer mehr "Sortierreste" auf, die nicht verwertet werden: Waren es 1997 noch 37 Prozent, so wuchs der Anteil bis 2005 auf etwa 50 Prozent. Von der Hälfte des DSD-Abfalls, der überhaupt "verwertet" wird, geht zudem ein erheblicher Anteil in die "energetische Nutzung". Das heißt, er landet wie ein Großteil des Hausmülls auch in den Verbrennungsanlagen. Wem treue Trenner fehlen, wer von "Trittbrettfahrerinnen und Trittbrettfahrern" in die Zange genommen wird, der bangt um seine Existenz. "Dem bewährten System droht durch Unterfinanzierung der Kollaps", erklärt daher das DSD und bezieht sich auf eine Studie der Unternehmensberatung A.T. Kearney. Diese prophezeite den Zusammenbruch möglicherweise schon für Ende 2007, spätestens aber für 2009. Helfen könne nur ein schnelles In-Kraft-Treten der neuen Verpackungsverordnung, die die blinden Müllprofiteure vom Trittbrett schubsen würde.
Monatelang stritt sich Umweltminister Gabriel mit Bundeswirtschaftsminister Michael Glos (CSU), bis der dem Verordnungsentwurf im September zwar zustimmte, aber schon kurz danach anregte, den Grünen Punkt abzuschaffen. Sein Staatssekretär Bernd Pfaffenbach hatte schon vorher erklärt, dass das Thema Verpackungsverordnung in der nächsten Legislaturperiode erneut angepackt werden. Die Opposition im Bundestag ist ebenfalls unzufrieden. So meint FDP-Entsorgungsexperte Horst Meierhofer, die Reform greife zu kurz, das System müsse "vom Kopf auf die Beine gestellt werden". Und auch die Grünen-Umweltexpertin Sylvia Kotting-Uhl erklärt, aus umweltpolitischer Sicht bestehe "stärkerer Reformbedarf". Die Linke begrüßt zwar einige Ansätze der Novelle, kritisiert aber eine andere Tatsache: "Trotz des Pflichtpfandes für Einwegflaschen und -dosen sinkt die Mehrwegquote unaufhörlich", sagt Eva Bulling-Schröter (Die Linke).
Bei Union und SPD melden sich bislang wenig Befürworter einer Radikalkur zu Wort. Doch sagt auch Bollmann, mittelfristig wünsche man sich mehr. "Wir favorisieren die trockene Wertstofftonne", so der Abgeordnete. Dahinein dürften dann eben nicht nur Verpackungen aus Kunststoff, sondern auch andere Dinge aus dem gleichen Material, zum Beispiel Spielzeug. Entsprechende Versuche gibt es, wie die "Gelbe Tonne Plus" in Leipzig - und auch das DSD nennt sie viel versprechend. Eine solche Wertstofftonne kann sich auch Gabriel vorstellen. Die Kommunen sollten bei der Gestaltung möglichst freie Hand bekommen, sagt ein Sprecher seines Ministeriums. "Aber die Vorstellung, wir kloppen das alles in die Tonne, das ganze System, das ist völlig absurd", fügt er hinzu. Ein Zurück zu einer einzigen Mülltonne werde es nicht geben.