EU-KOMMISSION
Das Europaparlament hat Präsident Barroso wiedergewählt. Seine Wahl ist umstritten - auch juristisch
Der Kandidat hat sein selbst gestecktes Ziel erreicht. Mindestens 369 Stimmen wollte er verbuchen, die absolute Mehrheit im neuen Europaparlament (EP) in Straßburg. Am Ende sind waren am 16. September sogar 382 Stimmen und der sonst stets kontrolliert auftretende alte und neue EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso war so erleichtert, dass er Luftküsschen ins Plenum warf wie ein Popstar. Eine Liebeserklärung an den Portugiesen ist das Votum allerdings nicht. Da es nur 117 Enthaltungen aber 219 Neinstimmen gab, ist es wahrscheinlich, dass einige der 184 Sozialisten und ein paar Liberale gegen ihn gestimmt haben.
Dabei hatte sich die sozialistische Fraktion (S&D) im EP geschlossen der Stimme enthalten wollen. Ihr Fraktionschef, der deutsche Abgeordnete Martin Schulz, befand sich in dieser Frage in einer echten Zwickmühle, die ihm in den vergangenen Wochen merklich Unbehagen bereitete. Alle sozialistischen und sozialdemokratischen Regierungen in Europa hatten die Nominierung Barrosos unterstützt. Die portugiesischen, spanischen und britischen Sozialisten im Europaparlament wollten ihrer eigenen Regierung nicht in den Rücken fallen. Deshalb hatte Schulz nach vielen Ausweichmanövern und äußerst widersprüchlichen Aussagen in der Nacht zum 16. September erklärt, er lehne Barroso zwar nach wie vor persönlich ab. Seine Fraktion aber werde eine einheitliche Linie zeigen und sich der Stimme enthalten.
Der Fraktionschef der Liberalen (ALDE), Guy Verhofstadt, hatte Zustimmung zu Barroso signalisiert. Die Forderungen seiner Fraktion seien teilweise erfüllt worden. So werde es in der nächsten Kommission ein eigenständiges Ressort für Grundrechte geben. Zusätzlich verlangte er von der Kommission Vorschläge, wie 27 nationale Konjunkturprogramme und 27 nationale Bankenrettungspläne in einen europäischen Aktionsplan überführt werden können. "Unsere Unterstützung dauert bis zu dem Moment, wo wir diese Elemente im Kommissionsplan erkennen", sagte Verhofstadt. Dennoch stimmten auch aus den Reihen der Liberalen einige gegen Barroso. Grüne und Linke lehnten ihn wie angekündigt ab. Die neue euroskeptische Fraktion (ECR) unterstützte ihn ohne Bedingungen.
Den Schönheitsfehler, dass er die 54 Stimmen der Antieuropäer für seine absolute Mehrheit gebraucht hatte, wischte Barroso mit der Erklärung beiseite, jede Stimme für ihn sei eine Stimme für Europa.
Ohnehin wird die ganze Wahlarithmetik bald vergessen sein. Denn nun geht es um die weiteren zu vergebenden Posten. "Sobald wie möglich" sollten die übrigen Kommissionsmitglieder bestimmt werden, mahnte der neue Parlamentspräsident Jerzy Buzek den frisch gebackenen Chef der Kommission. Vor dem 2. Oktober allerdings bewegt sich gar nichts. An diesem Tag stimmen die Iren erneut über den Lissabon-Vertrag ab. Sagen sie Ja, wird der Druck auf die Präsidenten von Polen und Tschechien steigen, rasch ihre Unterschrift unter die Vereinbarung zu setzen . Denn wenn der Nizza-Vertrag in Kraft bleibt, muss mindestens ein Land auf einen Kommissar in Brüssel verzichten. Dabei könnten diejenigen Länder leer ausgehen, die einer Reform im Wege stehen.
Diese Drohung wird Wirkung zeigen, und der Lissabonner Vertrag wird nach einem irischen Ja wohl nicht mehr aufzuhalten sein. Dann kann der Rat der Regierungen sich einen Präsidenten wählen, der ihm auf zweieinhalb Jahre vorsteht. Schon jetzt ist Großbritanniens Ex-Premier Tony Blair im Gespräch; er gehört der Labour-Partei an. Der neue Außenminister müsste damit aus dem konservativen Lager kommen, aber die Sozialisten im Europaparlament wollen den Posten für sich beanspruchen.
Neben Kommissionschef, Ratspräsident und Außenminister werden 25 Kommissarsposten zu besetzen sein. Barroso hat sich bereits Gedanken über sein neues Kollegium gemacht. In seiner Bewerbungsrede am 15. September vor dem EU-Parlament kündigte er an, das Ressort für Justiz und Inneres in zwei Bereiche aufzuspalten. Künftig soll es, wie die liberale Fraktion verlangt hatte, einen Kommissar für Justiz, Grundrechte und Freiheiten geben. Ein anderes Ressort soll sich mit Innenpolitik, Migration und Grenzsicherung befassen. Zusätzlich zum Umweltressort soll sich ein Kommissar ausschließlich dem Kampf gegen den Klimawandel widmen.
Wenn Barroso seine Mannschaft komplett hat, muss er sich noch einmal dem Votum des Europaparlaments stellen. Hinter den Kulissen rangeln die Regierungen bereits um die mächtigsten Posten in der Kommission. Vor allem Binnenmarkt, Industrie, Wettbewerbskontrolle und Außenhandel sind begehrt. S&D-Chef Schulz wiederum will die neue Kommission nur unterstützen, wenn die "ökologischen, sozialen und ökonomischen Felder" mit sozialistischen Kommissaren besetzt werden.
In seiner Rede vor den Abgeordneten bemühte sich Barroso, es allen recht zu machen. "Ich stehe für intelligentes grünes Wachstum, hohe Beschäftigung und sozialen Zusammenhalt. Solidarität ist der Schlüssel. Wir müssen denjenigen Mitgliedstaaten helfen, die in ernste finanzielle Schwierigkeiten geraten sind." Abgeordneten, die seine Ende Oktober ablaufende Amtszeit als schwach kritisieren, hielt er entgegen, er habe sich in den vergangenen fünf Jahren darauf konzentrieren müssen, die auf 27 Mitglieder erweiterte EU zu festigen. Außerdem müsse er für alle politischen Richtungen konsensfähig sein. "Meine Partei ist Europa!", konterte Barroso die Kritik, er zeige kein politisches Profil. Die Wirtschaftskrise allerdings erfordere eine grundsätzlich neue Politik.
Der neue grüne Fraktionschef Daniel Cohn-Bendit antwortete darauf: "Halluziniere ich? Alles ändert sich, obwohl ich da bleibe? Jetzt ist Schluss mit dem kleinen Barroso, der den Regierungen nach dem Munde redet? Wer soll Ihnen das glauben, Herr Kommissionspräsident!" Schulz argumentierte ähnlich: "Ich frage mich, warum ein Kandidat, der im Parlament durch alle Fraktionen umstritten ist, im Rat so unumstritten ist? Die Antwort liegt auf der Hand: Einen besseren Anwalt der Interessen des Rats hätte man in den vergangenen fünf Jahren nicht bekommen können." Schulz verlangte erneut, Barroso solle sich verpflichten, alle künftigen Gesetze auf ihre sozialen Auswirkungen zu prüfen. Außerdem müsse die Entsenderichtlinie geändert werden. "Ich erwarte, dass Sie sagen: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort, für Männer und Frauen!"
Das Gerangel um eine mögliche zweite Amtszeit des Portugiesen und den richtigen Wahltermin hatte sich mehr als drei Monate hingezogen. Unmittelbar nach der Europawahl Anfang Juni hatte Barroso seine Bewerbung öffentlich gemacht und mit der eindeutig konservativen Mehrheit im neuen EU-Parlament begründet: "Das Wahlergebnis liegt nun vor, was mir erlaubt, meine eigenen Absichten zu konkretisieren." Mit einem Brief versuchte er die Staats- und Regierungschefs davon zu überzeugen, ihn bereits beim Gipfeltreffen Mitte Juni offiziell zu nominieren. Die deutsche Kanzlerin schlug Barroso bei dem Treffen zwar für eine zweite Amtszeit vor. Doch zu einer offiziellen Nominierung konnten sich die 27 Ratsmitglieder nicht durchringen - erst solle das EP abstimmen. Doch Liberale, Grüne und Sozialisten lehnten es kategorisch ab, die Wahl noch vor der Sommerpause durchzuführen.
Damit bescherten sie dem Kommissionspräsidenten einen unruhigen Sommer. Er musste dafür sorgen, in der langen Brüsseler Ruhepause nicht in Vergessenheit zu geraten. Zudem feilte er an dem schriftlichen Programm, das er den Abgeordneten bei der Rückkehr aus den Ferien präsentieren wollte. Das 49-seitige Werk dürfte ihm manche schlaflose Nacht bereitet haben. Denn es musste konkret genug sein, um eine Vision und politische Aktionsfelder für die kommenden fünf Jahre erkennen zu lassen. Aber es durfte auch nicht zu viele Details enthalten, die Barroso bei einer der Fraktionen, die er für seine Wiederwahl brauchte, hätte in Misskredit bringen können.
Zumindest die EVP- Fraktion zeigte sich mit dem Ergebnis zufrieden. Barrosos Bekenntnis zu einem dynamischeren Binnenmarkt, seine Zusage, den Verwaltungsaufwand bis 2012 um ein Viertel zu verringern, vor allem aber die Aussagen zum Erweiterungsprozess fanden Zustimmung bei ihren Mitgliedern. In dem Papier heißt es: "Erweiterung ist kein unendlicher Prozess: Für diejenigen Nachbarländer, die nicht Mitglied der EU werden, müssen wir glaubwürdige attraktive Alternativen entwickeln, die sowohl den Erwartungen dieser Länder als auch denen der EU entsprechen."
In der Konferenz der Fraktionsvorsitzenden setzten sich EVP und Liberale mit der Forderung durch, im September über Barroso abzustimmen. Wie die schwedische Ratspräsidentschaft argumentierten sie, man brauche für die Verhandlungen in Pittsburgh und Kopenhagen einen voll legitimierten Vertreter der EU-Kommission.
Doch der juristische Spagat ist damit nicht beendet. Sowohl der juristische Dienst des Rates als auch die Experten des Parlaments sind überzeugt, dass es nicht rechtens ist, den Kommissionspräsidenten unter dem alten Vertrag zu wählen, sein Team aber erst zu bestimmen, wenn der neue Lissabon-Vertrag in Kraft ist.
Barrosos Team bleibt kommissarisch im Amt, bis die Vertragsfrage geklärt ist. Der Chef selbst, so fürchten viele, wird vor lauter Personalgerangel und Postengeschacher nicht dazu kommen, sich auf die wichtigen politischen Fragen der kommenden Monate zu konzentrieren.