Volksparteien
Franz Walter über die schwindende Integrationsfähigkeit von CDU und SPD
Wie oft sind die großen Volksparteien nicht bereits totgesagt worden? Oft! Und doch wird es sie auch nach dem 27. September weiter geben. Einer, der sich mit in diesen Chor der Mahner und Warner mit herausragender Stimme immer wieder hat vernehmen lassen, ist der Göttinger Politikwissenschaftler Franz Walter. Es überrascht deshalb nicht, dass Walter rechtzeitig vor der Bundestagswahl eine kleine Schrift mit dem Titel "Im Herbst der Volksparteien" vorgelegt hat. Die Botschaft ist nicht neu, doch die Prägnanz und die messerscharfe Analyse, wie dieser Bedeutungsverlust historisch herzuleiten ist, wird sicherlich auch die Wahlanalysen am Abend der Bundestagswahl bestimmen. Walters nicht überraschende Kernthese ist: Sowohl CDU und SPD erreichen seit langem ihre alten Milieus nicht mehr. Das ist zwar oft beschrieben worden und darf in keinem Leitartikel nach der Wahl fehlen, doch selten kann man dies in so mustergültiger Klarheit lesen, wie dies der Autor in seinem kurzen historischen Abriss über die Volksparteien schreibt.
Walter zeichnet dabei mit kräftigen, sicheren Strichen das Bild von der alten katholischen Milieupartei in der Nachfolge der Zentrumspartei hin zur konfessionsübergreifenden bürgerlich-konservativen Sammlungsbewegung, die vor allem ein rigider Anti-Sozialismus verband, den ein Helmut Kohl noch aktivieren konnte, der aber heute nicht mehr eint.
Das gleiche gilt für die Sozialdemokratie: Auch hier gelingt ihm mit wenigen Farbtupfern ein stilsicheres Porträt der Entwicklung von der altehrwürdigen Traditions- und Institutionenpartei im Bismarck-Reich und der Weimarer Republik bis hin zu Kurt Schumacher, dem anschließenden gesellschaftlichen Aufbruch der "68er" unter Willy Brandt und Johannes Rau und dem, trotz etlicher Wahlerfolge in den Ländern und im Bund, langen Siechtum der Partei in den Folgejahren bis heute.
Das alles ist, wie gesagt, oftmals aufgeschrieben worden, wenngleich man es selten in so klarer, geraffter Form und ohne jedes Politologenkauderwelsch lesen kann wie bei Walter. Deshalb ist umso interessanter, welche Begründung der Autor für diese Entwicklung anführt. Denn Schuld gibt Walter im Fall der CDU in erster Linie den ehrgeizigen und überakademisierten Parteigängern, die die Union alten Stils sozusagen von innen heraus ausgehöhlt haben. Es gab zu viele BWL'er, zu viele Avantgardisten des wirtschaftlichen Liberalismus und zu wenige Sozialkatholiken, die in den 1980er und 90er Jahren zur Union stießen, lautet sein drastisches Fazit. All das wäre der alten Adenauer-CDU nie passiert, dass sie den Eliten folgte und die Mitte links liegen ließ. Der bürgerliche Neuliberalismus untergrub die altkonservativen Bindungen und er brachte es auch bis heute - vielleicht mit der Ausnahme von Jürgen Rüttgers in Nordrhein-Westfalen - nicht fertig, die zunehmend politisch unbehauste Arbeiterklasse bei sich zu integrieren.
Im Fall der SPD sind es in den Augen von Walter vor allem die Wohlstandskinder der 1970er Jahre, die Theorie und Programm radikalisierten, ja das System überwinden wollten und die Mehrheit der möglichen Wähler davonjagten, ehe sie sich selbst davon machten - zu den Grünen und zur Linkspartei. Was folgte, so Walter, war ein wurschtiger Radikalismus; ein Theoretisieren ohne Ort und Grund, dem ein ebenso wurschtiger Pragmatismus folgte und den Auszug der einstigen Parteielite zu den Grünen brachte. Einzig allein das Duo Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder konnte die SPD noch einmal "wiederbeleben". Es umfasste Zuversicht und Ängstlichkeit, Reform und Anti-Reform und ebnete den Weg dafür, dass sich Wahrer des Wohlfahrtsstaates und Prediger der Deregulierung, erfahrene Gewerkschaftsfunktionäre und junge Firmengründer in ein und derselben Partei noch einmal wiederfanden. Doch das Ende dieses Spagats ist bekannt: Das politische Frustpotential landet heute bei der Linkspartei und aus der SPD wurde unter Schröder und Kurt Beck bis hin zu Frank-Walter Steinmeier eine, so Walter, "gemäßigt soziale, gemäßigt linksliberale, gemäßigt kosmopolitische Partei der gemäßigt halblinken Mitte der deutschen Gesellschaft".
Was aber bedeutet diese Wählererosion für die weitere Entwicklung der Demokratie in Deutschland? Vor allem fehlt es beiden einst großen Parteien an einem jeweils spezifischen Ethos, noch mehr aber an kreativen Programmatikern, die neu über die Sinnfrage und Zielperspektive ihres politischen Tuns nachdenken. Walter vermisst die scharfen inhaltlichen Kontroversen in den Parteien, in denen nachwachsende Eliten politische Härte und argumentativen Schliff gründlich lernen können. Denn wo der Sinn des Politischen keine Rolle mehr spielt, da braucht - wie in diesem Wahlkampf - auch nicht lange gestritten werden. Gewiss: Die Wähler lieben den politischen Streit nicht, aber gerade das entzieht den Parteien ihren politischen Stoff und höhlt sie aus. Am Ende steht ein Nicht-Wahlkampf und eine moderierende, technokratische Kanzlerin, die wie Angela Merkel eine große Koalition der Mitte anführt, ohne Ecken und Kanten. Die geringe aktive Beteiligung an der politischen Willensbildung, so Walter, ist deshalb zu bedauern. Aber sie ist auch, so der Autor, ein Zeichen dafür, dass die Gesellschaft derzeit (noch) nicht alles Heil von einer politischen Fundamentallösung erhofft. Das ist allerdings wohl nur ein mehr als schwacher Trost.
Franz Walter:
Im Herbst der Volksparteien?
Transcript Verlag, Bielefeld 2009, 136 S., 14,80 ¤