OSTREISE
Spurensuche nach Omas Erzählungen über die Thüringer Heimat
Hopfgarten, das war ein Stück meiner Kindheit. Einer Kindheit, die eineinhalb Jahre nach dem Mauerbau in Göttingen begonnen hatte, weiterführte über Frankfurt am Main, über Dortmund und Bonn. Hopfgarten war immer dabei, obwohl himmelweit entfernt. Nicht geografisch. Da war fast jedes Reiseziel in Frankreich weiter weg. Aber politisch und auch von der Lebenswirklichkeit her. Hopfgarten ist ein kleines Dorf bei Weimar, am Fuße des Ettersbergs, auf dem das Konzentrationslager Buchenwald stand. Hopfgarten lag für mich in jeder Hinsicht hinter der Grenze.
Vor zwanzig Jahren war sie plötzlich weg, die Grenze. Ich kann nicht für mich in Anspruch nehmen, das jahrelang herbeigesehnt zu haben. Ich lebte mein Westleben, ohne mich von der Mauer wirklich dabei stören zu lassen. Die Zeiten, da Hopfgarten fast täglich in mein Leben eindrang, weil meine aus Thüringen übergesiedelte Großmutter dem Kind davon erzählte, waren längst vorbei. Aber vergessen waren sie nicht, die Geschichten aus Hopfgarten, wo die Urgroßeltern 1918, zehn Jahre vor der Geburt meiner Mutter, ein großes Haus auf riesigem Grundstück gekauft und offenbar herrliche Sommer verbracht hatten.
Jeder bei uns dachte an seine Belange in diesen letzten Wochen des Jahres 1989 und zu Beginn des kommenden Jahres. Ich dachte wie alle an die umgestürzte Mauer, an Helmut Kohl, die deutsche Geschichte, an Trabis, an die Schwestern und Brüder, die in meinem Fall Stiefschwester und -bruder meiner Mutter waren und - auf einmal wieder - an Hopfgarten.
Eigentlich war das Alter vorbei, in dem man mit den Eltern verreiste. Doch jetzt hatten mir die Zeitläufe sozusagen den Auftrag gegeben, die Kindheit meiner Mutter und damit irgendwie auch meine eigene zu bereisen: Weimar, Apolda, Hopfgarten. Das konnte selbstredend nur mit der Mutter geschehen, die kurz nach dem Krieg in den Westen gekommen war. Mein Vater hatte über die Jahre die etwas ärgerliche Neigung entwickelt, immer kleinere Autos zu kaufen. Und so bestiegen die Eltern, meine spätere Frau und ich in den Pfingsttagen des Jahres 1990 einen Opel Kadett und machten uns von Bonn aus auf Richtung Thüringen.
Schon nach wenigen Stunden war die Grenze bei Herleshausen erreicht. Natürlich wussten wir, dass es nicht viel komplizierter werden würde, als in die Ferien nach Holland zu fahren. Aber als dann der Wagen tatsächlich auf DDR-Gebiet rollte und der Grenzer einfach nur winkte und uns bedeutete, weiterzufahren, herrschte doch etwas Fassungslosigkeit: Einfach so? Nicht ein Blick in die Ausweise?
Der Opel, so eng er war, hatte auch Vorteile. Vier erwachsene Wessis in einem so kleinen Auto - das baute vor gegen ein Vorurteil, das oft genug zum Urteil wurde. So kamen keine Eroberer daher, die ihre alten Häuser forderten. Gleichwohl die unsichere Frage: Wie würden wir empfangen?
In Apolda nahe Weimar, der Geburtsstadt der Mutter, suchten wir zuerst das Haus auf, in dem die Großeltern ihre Stadtwohnung hatten. Es war in einem beklagenswerten Zustand, wie damals die meisten Gebäude in dieser und vielen anderen Städten der eben zu Boden gegangenen DDR. Nach kurzer Suche waren vier Löcher in der Hauswand gefunden. Hier war das Schild angeschraubt gewesen, das zur Arztpraxis des Großvaters wies.
In Apolda gingen wir die Schulwege der Mutter ab, hörten noch einmal die Geschichten von früher - wie etwa der Großvater, nicht mehr ganz nüchtern, mit dem Auto einen frisch gepflanzten Baum auf einem kleinen Platz überfuhr und die Sache mit einer kleinen Zahlung in die Gemeindekasse wieder in Ordnung brachte.
Der Mittagshunger winkte von Ferne und der Gedanke kam, zu schauen, ob noch ein Lokal von damals existierte. Tatsächlich, der "Adler" war noch am Platz und geöffnet, doch wollte der Ober eine exakte Zusage, dass und zu welcher Zeit wir kämen. Die wollten wir nicht geben und zogen weiter. In der "Deutschen Eiche" dann wurde sogar der Hund von Mutters uns begleitender Stiefschwester mit eingelassen. Das sei die Wende, meinte der Vater angesichts von so viel Flexibilität der Wirtin. Reichlich gefüllt die Teller mit einem ordentlichen Hirschragout nebst Kartoffelknödeln. Sensationell war weniger der Geschmack als vielmehr der ungeheuer niedrige Preis. Gekrönt wurde der Apoldabesuch von einer Begegnung der Mutter mit einem einstigen Klassenkameraden. Er war Organist in der Lutherkirche. Man erinnerte sich, gerührt. Als wir gingen, erklang mächtig die Orgel.
Dann Hopfgarten: Die Dorfstraße war so, wie sie der Erinnerung an die Geschichten der Großmutter zufolge damals gewesen sein musste. Bergauf bis zum Ende der Dorfstraße lag das nicht mehr ganz weiße Haus, wie sechzig Jahre zuvor. Hier hatte die Mutter also mit Vetter und Cousine ganze Sommer verbracht, mit Hund und Katze der Urgroßeltern gespielt und den Wert des Wassers schätzen gelernt, dass noch aus dem Dorf hoch gebracht werden musste.
Dann steht ein Mann vor der Tür, der schon da war, als die Mutter noch Kind war. Ein Gespräch über früher - in jetzt heiklen Zeiten: Leute aus dem Westen suchen nach dem Mauerfall nach alten Häusern, die ihnen gehörten hatten. Doch hier war die Sache anders, kein Anlass zu Sorgen. Die Urgroßeltern hatten das Haus 1938 verkauft, ohne Zwang. Es waren nicht die Alteigentümer angereist - nur ein paar Besucher ihrer eigenen Geschichte. Eckart Lohse
Der Autor leitet das Berliner Büro der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung".