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Die einen denken bei Europa an ein grenzenloses Vergnügen, an internationale Studiengänge, Erasmus-Partys und paneuropäische Freundeskreise. Für andere ist es die Union, bedeutet es Bürokratieirrsinn und Regulierungswut. Manche haben Angst davor, zum Beispiel vor dem „polnischen Klempner”. Wie viel Europa brauchen wir eigentlich? Und wie viel EU braucht Europa? Lavinia aus Rumänien, Lucie aus Frankreich und Matthias aus Deutschland haben sich zusammengesetzt und Europa nach ihren eigenen Richtlinien vermessen.
GLASKLAR: Lavinia, du hast in vier europäischen Ländern gewohnt, sprichst fünf Sprachen. Bist du noch Rumänin oder schon Europäerin?
Lavinia: Ich bin Rumänin geblieben und Europäerin geworden. Ich identifiziere mich mit Europa mehr als vorher. Heute ist „mein Europa” ein Zusammenspiel von Erfahrungen und Erkenntnissen, die über Landesgrenzen hinausgehen, die aber ohne diese Grenzen auch nicht als so vielfältig zu denken wären. Zum Beispiel ist mein Europa der Jugendstil in Prag, Budapest, Berlin und Cluj, der jeweils seine eigene Prägung hat, aber doch Jugendstil bleibt. Und damit eine europäische Kunstrichtung ist.
GLASKLAR: Du studierst europäisches Recht, Lucie. Was fasziniert dich an Europa?
Lucie: Die Europäische Gemeinschaft ist noch ganz neu. Es ist spannend zu lernen, wie so viele Staaten versuchen, ein einheitliches Recht zu schaffen.
GLASKLAR: Matthias, was bedeutet Europa für dich?
Matthias: Ich erlebe, dass die Grenzen zum Teil völlig verschwinden. Ich kann überall hin, ohne meinen Pass vorzeigen zu müssen. Ich treffe jeden Tag Europäer. Bei Café Babel sind Leute aus allen Nationen dabei. Und meine Freundin ist Griechin.
GLASKLAR: Auf welchen europäischen Baustellen werkelt ihr gerade?
Lavinia: Beim „Studienkolleg zu Berlin” mache ich ein Projekt zum niederländischen Integrationsmodell. Zusammen mit sechs anderen Kollegiaten aus der Schweiz, Russland, Finnland, Italien, Spanien und Deutschland untersuche ich, ob dieses einst so tolerante und liberale Modell gescheitert ist. Dafür reisen wir im März nach Amsterdam und interviewen Vertreter aus Politik, Medien und sozialen Einrichtungen.
Matthias: Ich bin Redaktionsleiter vom europäischen Onlinemagazin Café Babel in Berlin. Lokalredaktionen gibt es in 20 Ländern. Die Zentralredaktion sitzt in Paris. 500 Leute gehören zu diesem Netzwerk, die übersetzen und Artikel schreiben.
Lucie: Ich habe vier Jahre lang in Paris das deutsche und französische Recht studiert, bin jetzt an der Uni Potsdam. Ich bereite meinen Abschluss vor und schreibe eine Arbeit über Europarecht — auf Deutsch und Französisch.
GLASKLAR: Was ist das eigentlich, Europa?
Matthias: Der Kontinent ist in den Hintergrund gerückt. Heute wird Europa als Synonym für die EU gebraucht. Das ist aber falsch. Zum Beispiel berichtet Café Babel über Themen wie das Lebensgefühl in Europa insgesamt. Das geht über die Grenzen der EU hinaus.
GLASKLAR: Und wer sollte zu Europa gehören?
Lucie: Natürlich nicht jedes Land, wenn man jetzt die Europäische Union meint. Dafür gibt es bestimmte Kriterien, wie die Wahrung der Menschenrechte. Möglicherweise kann die Türkei diese Bestimmungen eines Tages erfüllen, aber auch das reicht nicht aus. Die Frage ist doch: Was will Europa?
Matthias: Europa sollte klein anfangen und sich auf den europäischen Kontinent beschränken. Der ist allerdings schwer abzugrenzen, denn Europa und Asien sind die einzigen Kontinente, die sich eine Landgrenze teilen und nicht durch einen Ozean getrennt werden. Europa zunächst darauf zu beschränken, reicht aus und ist auch realistischer. Ander seits sagte der österreichische Schrift steller Robert Menasse der Wochenzeitung Die Zeit in einem Interview, es gäbe gute Gründe für eine Europäisierung der Welt.
Lavinia: Ui.
Matthias: Aus dem Aufklärungsgedanken heraus. Aus dem Gedanken, dass nur in Europa — und in den USA — die Idee der Menschenrechte entstanden ist. Das ist etwas, das würdig ist, exportiert zu werden.
Lucie: Werden wir zu groß, bekommen wir ein Problem, wenn wir eine „Union” bleiben wollen.
Matthias: Ja, ich sehe da auch realpolitische Probleme, ganz klar. Aber dieser Gedanke von der Vereinigung der Welt ist etwas Ideelles.
Lavinia: Ich fi nde es komisch, Europa nur mit dem Gedanken der Menschenrechte gleichzusetzen. Für mich ist Europa mehr als Menschenrechte, Demokratie und Christentum. Europa und die europäische Identität kann man nicht einfach so benennen. Dadurch wird sie künstlich konstruiert. Man versucht, etwas zu bauen. Wie man vor hundert Jahren Nationalstaaten bauen wollte.
Matthias: Es ist doch viel schöner, wenn es viele verschiedene Identitäten innerhalb Europas gibt.
Glasklar: Kann man denn auf Europa stolz sein?
Lucie: Wie man auf sein Land stolz sein kann? Ich finde schon. Der Grundgedanke lautet: „in Vielfalt geeint”. Wir wollen etwas zusammen schaffen, aber es ist wichtig, dass jedes Land seine eigene Kultur behält.
Matthias: Stolz ist natürlich ein schwieriger Begriff. Wahrscheinlich ist das mein typisch deutsches Problem. Ich bin einfach glücklich und froh, in Europa und in Deutschland zu leben.
Lavinia: Es ist schwer, auf Europa stolz zu sein, wenn man bedenkt, was Europa im 20. Jahrhundert verursacht hat, angefangen bei den Weltkriegen. Andererseits kann man auch stolz sein, dass nach diesen Weltkriegen sich keiner in Europa mehr vorstellen kann, solche Kriege noch mal zu führen.
GLASKLAR: Politisch wird Europa meist mit der Europäischen Union gleichgesetzt. Was haltet ihr von der EU?
Matthias: Wie Lavinia sagt: Wir haben es geschafft, keinen Krieg mehr zu führen. Das ist eine Leistung. Obwohl es genau genommen in Europa noch Kriege gab. Vielleicht sagt man besser, wir haben einen relativen Frieden geschaffen.
Lucie: Rein wirtschaftlich ist es für mein Land ein Geschenk, zur EU zu gehören. Und die neuen Länder bringen wieder Energie in die Union. Davon profitiert auch Frankreich.
Matthias:Ich finde gut, dass viele Länder unter einem Dach Probleme angehen, die sie allein nicht lösen könnten. Mit Ausnahme von einigen politisch starken Ländern wie Deutschland oder Frankreich. Das sind Probleme wie etwa der Klimaschutz. Der macht nicht vor den Grenzen halt, das ist kein nationales, sondern ein globales Problem. Auf der anderen Seite ist die EU wirtschaftlich stark, aber politisch eher schwach. Da muss sie ihren Platz in der Welt erst noch finden.
GLASKLAR: Was erhofft ihr euch von der Erweiterung der EU?
Lavinia: Ich hoffe, dass in Rumänien endlich auch EU-Regeln gelten. Für den Beitritt wurden sie ja schon umgesetzt. Jetzt müssen sie aber auch wirken. Damit meine ich Lücken in der rumänischen Gesetzgebung oder Gesetze, die durch Korruption einfach umgangen werden. Zum Beispiel der Umweltschutz: Ich hoffe, dass sich Rumänien jetzt durch den Beitritt auch an wichtige Regelungen halten wird. Man darf zwar seit einigen Jahren ohne Katalysator nicht mehr in Rumänien fahren. Trotzdem kommen immer noch viele Autos ohne Katalysator durch den TüV.
Matthias: Wir von Café Babel in Deutschland wollen dieses Jahr unter das Motto stellen: „Im Osten was Neues — Impulse für Europa?” Damit wollen wir der Frage auf den Grund gehen, ob der Osten frischen Wind in die EU bringen kann. Und ob die EU sich positiv auf die neuen Länder auswirkt.
Lavinia: Viele denken ja bei der Erweiterung an die Türkei. Aber ich denke an Russland. Warum nicht auch die Russen? Die sind doch viel europäischer. Da ist eher eine gemeinsame Basis da, weniger ein Zusammenprall der Kulturen. Aber grundsätzlich bin ich auch für einen Türkeibeitritt.
Lucie: Wir hatten in Frankreich auch eine Debatte über eine Erweiterung. Die Franzosen zittern vor dem „polnischen Klempner”. Der zieht in den Westen, wo er mit den Arbeitsbedingungen seines Landes arbeiten kann. Er schlägt seine französischen Kollegen durch Qualität und Preis; dadurch sinkt das Preisniveau.
Matthias: Diese Angst gibt es in Deutschland auch. Ich war für eine Reportage auf einem Bauernhof in der Nähe von Berlin. Der Besitzer meinte, wenn er zum Spargelstechen keine Polen oder Osteuropäer einstellen könnte, müsste er den Betrieb dichtmachen. Obwohl das oft als Ausrede benutzt wird.
GLASKLAR: Sind die jungen Menschen heute europäischer?
Matthias: Es ist viel natürlicher geworden, sich in der europäischen Welt zu bewegen. Es gibt Billigflieger, Erasmus-Austauschprogramme und internationale Studiengänge. Aber es gab auch davor schon europäische Bewegungen und Europäer.
Lucie: Wenn man europäische Erfahrungen gemacht hat, fällt es einem leichter, sich Europäer zu nennen. Zum Beispiel Erasmus-Programme: Ich habe eine Freundin, die zurzeit in Rom wohnt. Sie hat eine Party gegeben und Studenten aus ganz Europa eingeladen. Alle haben T-Shirts getragen, auf denen stand: „Mein Land ist Europa.”
Matthias: Witzig fand ich, als sich einige von Café Babel in Barcelona für Workshops trafen. Einen Abend waren wir am Strand, haben ein Quiz gespielt, natürlich mit Europafragen, und hatten genug Getränke und Knabbereien dabei. Plötzlich standen zwei Amerikaner mitten unter uns und haben gefragt, ob sie sich dazusetzen könnten. Sie sind den Strand auf und ab gegangen, um sich einer Gruppe anzuschließen. Bei uns haben sie geglaubt, den meisten Spaß haben zu können. Da habe ich gesehen, welche positive Ausstrahlung diese internationale Vernetzung haben kann.
GLASKLAR: Was bedeutet die EU für euer Land, welche Wirkungen seht ihr?
Lucie: Ein Beitrag der EU für Frankreich betrifft den Haushalt. Mit den Warnungen aus Brüssel wird Frankreich vor noch mehr Verschuldung geschützt.
Matthias: Für Deutschland bedeutete die EU historisch erst mal eine Eingliederung in die westliche Gemeinschaft. Und dazu verhilft die EU Deutschland zu einer wichtigeren Stellung in der Welt, in der man gemeinsam auftreten kann. Mit Angela Merkel als EU-Ratspräsidentin und dem G8-Gipfel.
Lavinia: Es gibt auch Nachteile. In Rumänien kann es passieren, dass die vielen kleinen Bauern und deren traditionelle Betriebe verschwinden. Das fängt beim Schnaps an: Bisher hat in Rumänien so gut wie jeder Haushalt seinen eigenen Schnaps hergestellt. Nun darf man das nicht mehr oder nur noch unter bestimmten Auflagen. Das gleiche gilt für den Ziegenkäse.
Lucie: Es gibt viele Forderungen an die EU: weniger Bürokratie, mehr Bürgernähe. Die EU ist noch im Entwicklungsstadium. Im Moment hängt sie fest — irgendwo zwischen Demokratie und Bürokratie.
GLASKLAR:Was ist mit dem Schlagwort von der „Festung Europa”? Im Innern herrscht Frieden und Wohlstand. Davon träumen natürlich auch viele Menschen aus anderen Teilen der Welt, können aber nicht einfach daran teil haben.
Lucie: Selbstverständlich soll Europa kein geschlossener Wohlstandsclub sein.
Matthias: Mit einer Festung Europa staut man die Probleme in der Welt nur außen auf, bis sie mit aller Wucht über uns hereinbrechen. Tatsächlich braucht Europa die Welt. Ich würde es begrüßen, wenn Europa sich offen zeigt.
Lavinia: Ich glaube nicht, dass Europa eine Festung sein sollte, glaube aber auch nicht, dass lauter Dritte-Welt-Länder dazugehören wollen. Im Prinzip hätte ich nichts dagegen, etwa Syrien in der EU zu wissen, wenn es sich an die demokratischen Grundsätze hält, an die Menschenrechte. Außerdem wäre es vielleicht strategisch gar nicht schlecht, ein Standbein in einem ganz anderen Kulturkreis und auf einem ganz anderen Markt zu haben.
GLASKLAR: Die Menschen in Europa werden mobiler. Aber was ist mit einer gemeinsamen öffentlichkeit und europäischen Medien?
Matthias: Café Babel ist paneuropäisch. Es erscheint in sieben Sprachen. Im Oktober war ich bei einer Diskussion mit Werner D?Inka, dem Herausgeber der FAZ. Der erzählte, dass sie Ende der 80er Jahre eine Europabeilage produzierten. Die wurde ganz schnell eingestampft, weil sie angeblich niemanden interessierte. Das Desinteresse liegt auch daran, dass kaum jemand die Gesichter der EU kennt.
Lavinia: An vielen Rumänen ist der EU-Beitritt vollkommen vorbeigegangen. Aber für junge Leute ist der doch richtig gut. Es gibt Reisefreiheit, man kann leichter im Ausland studieren. Man hätte die EU besser erläutern müssen.
Lucie: Das gleiche Problem haben wir in Frankreich: Viele haben 2005 den Verfassungsentwurf abgelehnt, weil er ihnen nicht ausreichend erklärt wurde. Ist die EU-Verfassung höher gestellt als die Landesverfassung? Ist das französische Recht jetzt ungültig? Kaum jemand weiß, was die EU ist.
GLASKLAR: Und was ist nun Europa oder typisch „europäisch”?
Matthias: Vielleicht ist es europäisch, dass die Menschen Grundvertrauen in einen Sozialstaat haben, der für sie da ist.
Lavinia: Auf jeden Fall reicht das Wort „Vielfalt” für Europa nicht aus. Vielfalt ist ein Schutzbegriff. Wenn wir etwas nicht beschreiben können, sagen wir Vielfalt.
GLASKLAR: Wie sollte Europa in 20 Jahren sein?
Lucie: Europa sollte eine politische Stimme in der Welt haben. Ich wünsche mir, dass meine Kinder schon in der Schule ganz viel über die anderen EU-Länder lernen. Und das der Dialog zwischen den Kulturen selbstverständlicher wird.
Matthias: Europa sollte Lösungen finden für nationenübergreifende Probleme wie Klimawandel und Arbeitslosigkeit. Lösungen dafür, wie Europa mit seinen Nachbarn umgeht, mit Menschen, die nach Europa kommen, ohne sie als „Illegale” abzustempeln. Wir brauchen Zuwanderung, schon allein wegen des demografischen Wandels.
Lavinia: Es wäre schön, wenn sich Europa in den Konflikten mit der islamischen Welt positionieren könnte. Und wenn es zu einem friedlichen Zusammenleben kommt zwischen Europa, Amerika und den islamischen Ländern.
GLASKLAR: Wo wollt ihr mal leben?
Lucie: Ich möchte gerne im Ausland leben. Aber nicht für immer, ich würde den französischen Käse vermissen.
Matthias: Das ist ganz offen.
Lavinia: Irgendwo in Europa.
Lavinia Lazar, 23 Jahre, ist in Siebenbürgen, Rumänien, aufgewachsen. Ihre Muttersprache ist rumänisch. Dass ihre Eltern sie dort auf eine deutsche Schule schickten, fand sie anfangs gar nicht lustig. Inzwischen ist sie froh darüber. Sie hat schon ein Studium hinter sich, ein Jahr wohnte sie in Frankreich und ein halbes Jahr in Prag. Jetzt studiert sie Angewandte Literaturwissenschaft in Berlin.
Matthias Jekosch, 26 Jahre, ist Berliner Redaktionsleiter des europäischen Nachrichtenmagazins Café Babel. Außerdem schreibt er für den Tagesspiegel und Die Zeit. Nebenbei macht er seinen Magister an der Humboldt-Uni, in Germanistik, Medien- und Kulturwissenschaften. Europa hat er auch privat, seine Freundin ist Griechin.
Lucie Laithier, 22 Jahre, kommt aus Ostfrankreich. Sie studiert Europäische Rechtswissenschaften in Nanterre (bei Paris) und in Potsdam und schreibt wissenschaftliche Arbeiten auf Deutsch und Französisch. Später möchte sie für eine europäische Organisation arbeiten oder Professorin werden. Dann würde sie im nächsten Jahr ihre Doktorarbeit beginnen.