In der Verkehrsplanung und Verkehrspolitik sind die Belange von Familien bislang kaum berücksichtigt worden. Während beispielsweise der Begriff "familienfreundliches Wohnen" durchaus geläufig ist, lässt sich das beim "familienfreundlichen Verkehr" nicht feststellen.
Im Verkehrsbereich dominieren offensichtlich andere Themen so stark, dass kein Raum bleibt, in die kontroversen Debatten etwa über die Entwicklung und den Einsatz von Technik zur Verhinderung von Staus, über die Einführung von Straßenbenutzungsgebühren, über Ansätze zur Senkung des Kraftstoffverbrauchs auch noch soziale Aspekte wie den familienfreundlichen Verkehr einzubringen. Wirtschaftliche und zunehmend auch ökologische Überlegungen beherrschen das Feld. Ein weiterer Grund ist, dass im Verkehr im Allgemeinen nur zwei Ebenen betrachtet werden: in erster Linie die Aggregatebene, das heißt der Verkehr als Summe individueller Fortbewegungen pro Zeit und Raum, sowie des Weiteren die individuelle Ebene, das heißt die einzelne Person, die zum Verkehr beiträgt, beziehungsweise der "Beförderungsfall". Die dazwischen liegende Gruppenebene fehlt. Menschen sind jedoch nicht nur "Einzelwesen", die ihre Entscheidungen ganz für sich allein treffen - zum Beispiel welches Verkehrsmittel sie wählen -, sondern "Gruppenwesen". Viele Entscheidungen werden in Gruppen gefällt, zum Beispiel wird entschieden, dass die Mutter heute das Familienauto bekommt, weil sie das Kind transportieren und den Großeinkauf tätigen muss, und der Vater an diesem Tag mit dem Fahrrad vorlieb nehmen muss. Weil die Gruppenperspektive in der Verkehrsplanung und Verkehrspolitik noch nicht entwickelt ist, kommen auch die Probleme, die Familien mit dem Verkehr haben könnten, nicht in den Sinn.
Die Familie rückte mit ins Blickfeld, als man in den 90er-Jahren begann, die Belange von Frauen als Verkehrsteilnehmerinnen zu beleuchten. Man stellte fest, dass sich Frauen in mehrfacher Hinsicht von Männern unterscheiden: sie haben seltener ein Auto zur Verfügung, sie fühlen sich häufiger unsicher, belästigt und bedroht, wenn sie in der Dunkelheit allein unterwegs sind, sie legen öfter Wegeketten anstelle einfacher Wege zurück und sind häufiger für die Betreuung und das Wohl von Kindern zuständig. Frauen in ihrer Rolle als Sorgende für andere Familienmitglieder sind die Brücke zur Familie. Sie nehmen Kinder mit, wenn sie unterwegs sind, und sie begleiten Kinder auf ihren Wegen, damit diese sicher und in zumutbarer Zeit am Zielort ankommen.
Während die Familie in Bezug auf den Bereich Mobilität und Verkehr kaum thematisiert wurde, war das Thema "Kind und Verkehr" immer im Blickfeld. Alle Jahre wieder, wenn die Verkehrsunfallstatistik des Vorjahres veröffentlicht wird, werden die Kinderverkehrsunfälle extra analysiert. Handlungsbedarf ergibt sich dann, wenn die Unfallraten angestiegen sind oder wenn Deutschland im Vergleich zu seinen Nachbarländern schlecht abschneidet. Vor 30 Jahren war die Rate der verunglückten Kinder in Westdeutschland deutlich höher als heute, im Osten ist sie nach der Wende angestiegen. Doch auch wenn diese Zahl heute insgesamt niedriger ausfällt als vor 30 Jahren, so nimmt Deutschland im Vergleich zu den anderen Ländern Europas nach wie vor eine Spitzenposition ein. Hier ist natürlich die Verkehrspolitik gefordert.
Die Frage der Verkehrssicherheit ist jedoch nur ein Aspekt, wobei es keine Frage ist, dass es sich um einen entscheidenden Punkt handelt. Das zeigt sich auch daran, dass sich viele Verbände und Institutionen damit befassen. Es gibt aber noch weitere verkehrsbedingte Probleme, die sich Familien im wahrsten Sinne des Wortes in den Weg stellen und die sie lösen müssen. Ein gravierendes Problem ist, dass sich Kinder draußen oftmals nicht mehr eigenständig und in ausreichendem Maße bewegen können, weil die dazu erforderlichen Freiflächen knapp geworden sind. Denn sowohl der fließende als auch der ruhende Autoverkehr nehmen ungeheuer viel Fläche in Anspruch. Sogar der ruhende Verkehr ist gefährlich, wenn er nämlich die Sicht über das Verkehrsgeschehen behindert. Wenn Aktions- und Spielräume im Außenraum verschwinden, werden sich die Kinder in unserer ohnehin bewegungsarmen Auto-, Fernseh- und Computer-Gesellschaft noch weniger bewegen. So können sie auch die psychomotorischen Fertigkeiten, die für eine eigenständige Verkehrsteilnahme erforderlich sind, nicht im erforderlichen Maße ausbilden. Solange es verkehrssichere Freiflächen in Wohngebieten gibt, könnte auf Kompensationsangebote wie das Kinderturnen im Vorschulalter, Bewegungskindergärten oder "bewegte" Schulen weitgehend verzichtet werden.
Im Übrigen sind auch die Kinder auf dem Lande zunehmend von Bewegungsarmut betroffen, denn die Vorteile ländlicher Wohngebiete, Kindern größere Aktionsräume zu bieten, gehen verloren, wenn sie zur Schule und zu anderen Zielorten transportiert werden müssen. Zusätzlich wird hier das Zeitbudget vor allem von Frauen belastet, die als Transportunternehmen fungieren.
Daraus ergibt sich, dass eine familienfreundliche Verkehrspolitik mehr leisten muss als gleiche Mobilitätschancen für Familien wie für Nicht-Familien herzustellen. Sie muss auch auf verkehrsbedingte Belastungen von Familien, die durch mangelnde Verkehrssicherheit, fehlende Spiel- und Bewegungsmöglichkeiten im Außenraum oder Verkehrslärm entstehen, reagieren und Familien bei der Problemlösung unterstützen.
Je nach Familienphase gestaltet sich die Beziehung zur Verkehrsumwelt unterschiedlich, wobei grundsätzlich stets zwei Seiten im Auge behalten werden müssen. Einerseits nehmen Familien und Familienmitglieder am Verkehr teil, andererseits sind sie von den negativen Folgen des motorisierten Straßenverkehrs stärker betroffen, weil vermehrte Schutzmaßnahmen erforderlich sind und weil Familien stärker an die Wohnung gebunden sind als beispielsweise die hochmobilen Singles. Bei Kindern in der Kleinkind-, Vorschul- und Grundschulphase fungieren die Eltern vor allem als Schutzschild. Die größte Gefahr ist der motorisierte Verkehr. Geschützt wird durch Begleitung beziehungsweise Transport im Pkw und durch Einschränkung des kindlichen Aktionsraums. Ein familienspezifischer Stress ist die Angst der Eltern, dass das Kind verunglücken könnte, wenn es, sobald es älter wird, seine Wege eigenständig zurücklegt. Doch Eltern sind nicht nur Betreuungs- und Bezugspersonen, sondern auch Vorbilder, deren Verhaltensweisen übernommen werden. So sind Kinder, die in autofreien Haushalten aufwachsen, und Kinder mit Eltern, die einen großen Teil der Wege nicht mit dem Auto zurücklegen, weniger autoorientiert; sie stellen sich seltener vor, dass sie als Erwachsene viel Auto fahren werden, als Kinder aus autofixierten Familien. Anzumerken ist hier, dass Eltern den an sie gestellten Mobilitätsanforderungen nachkommen müssen. Inwieweit das ohne Auto möglich ist, hängt nicht nur von ihnen selbst, sondern auch von raumstrukturellen Merkmalen beziehungsweise den Entfernungen zu den alltäglichen Zielorten und der unkomplizierten Erreichbarkeit dieser Orte mit dem Fahrrad, mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder zu Fuß ab.
Eine kinder- und familienfreundliche Verkehrspolitik lässt sich folgendermaßen umschreiben: Kinder können sich verkehrssicher in ihrem Wohngebiet bewegen, sie können ihre Schulwege ohne Angst zurücklegen, sie haben ausreichend Spiel- und Bewegungsräume im Außenraum, Eltern müssen nicht ständig aufpassen, sie haben weniger Stress, und sie können, weil sie den Mobilitätsanforderungen auch ohne Fahrzeug genügen können, bessere Vorbilder sein.
Es gibt zahlreiche und vielfältige Vorschläge in dieser Richtung, die zwar meistens nicht unter der Flagge "familienfreundliche Verkehrspolitik" segeln, es aber dennoch sind. Sie laufen auf eine Besserstellung des nicht motorisierten Verkehrs hinaus. So haben es die nicht motorisierten Familienmitglieder leichter, ihre Mobilitätswünsche zu erfüllen und den Mobilitätsanforderungen eigenständig und ohne Angst, im Verkehr zu verunglücken, nachzukommen. Familien müssen weniger verkehrsbedingten Stress erleben. Ein positives Beispiel ist der Nationale Radverkehrsplan, der Argumente und Tipps für eine strategische Radverkehrsförderung enthält.
Kinder- und familienfreundlicher Verkehr ist aber nur dann möglich, wenn die Verkehrsteilnehmer und Verkehrsteilnehmerinnen dabei mitmachen. Dazu gehört die Erkenntnis, dass der Verkehr keine individuell unbeeinflussbare Tatsache ist, auf die man sich einzustellen hat, sondern dass er ein von Menschen gemachtes und veränderbares Produkt ist. Der Wandel von der klassischen schulischen Verkehrerziehung, die den Schwerpunkt auf das Lernen von Verkehrsregeln legte, zur zeitgemäßen Mobilitätserziehung ist dabei ein wesentlicher Schritt.
Am Schluss noch kurz der Blick auf das Stichwort "Partizipation". Damit ist nicht gemeint, dass Familien in die kommunale Verkehrsplanung einsteigen sollen. Sondern es geht darum, dass sie ihre Probleme und ihr Erfahrungswissen "an den Mann" bringen können. Mit einer Ansprechperson in der Stadt im Sinne eines Ombudsmanns für die Belange von Kindern und Familien im Verkehr wäre die Bezeichnung "Partizipation" schon ein Stück weit realisiert. Antje Flade
Antje Flade ist Diplom-Psychologin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut Wohnen und Umwelt (IWU) in Darmstadt.
Internet: www. beiki.de
(webbasierte Lernsoftware "Mit dem Fahrrad durchs Netz", auch als CD-ROM im IWU erhältlich)