Derartige Horrorszenarien halte ich für gefährlich und vor allen Dingen auch für ungerecht. Die Veränderungen Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre, sie waren ja notwendig in einer Demokratie, in der nicht einfach das Wort des Vaters als Wahrheit gelten konnte, in der Kinder und Jugendliche lernen sollten, nachzufragen, sich eine eigene Meinung zu bilden. Gerade bei vielen Jugendlichen beispielsweise aus patriarchal geprägten Zuwandererfamilien sehen wir heute eben dieses Ringen, das in jenen Jahren in den deutschen Familien stattfand. Dass Autorität etwas anderes bedeutet als autoritäres Gebaren, musste in jenen Jahren gelernt werden. Allerdings dachten manche nun, Kinder erzögen sich irgendwie von selbst und würden ihren Weg ohne jede Orientierung finden. Doch es gibt einige Beispiele, die eine notwendige Veränderung deutlich machen:
Das ist ein großer Lamentogesang. Gleichzeitig muss festgestellt werden, dass immer noch 80 Prozent aller Kinder bei Vater und Mutter aufwachsen und erzogen werden, dass sich viele Alleinerziehende intensiv um Erziehung bemühen. Zudem hat sich das Verhältnis von Eltern und Kindern deutlich verbessert. Das ist beispielsweise an der Tatsache abzulesen, dass laut Umfragen heute Jugendliche ihre Mütter an erster Stelle nennen, wenn sie nach Vorbildern gefragt werden. Das ist in der Tat eine Veränderung. Das heißt, Eltern sind zunehmend Personen des Vertrauens geworden, Menschen, mit denen ich über Probleme, auch über Sexualität sprechen kann.
Gleichzeitig muss Eltern natürlich immer wieder deutlich gemacht werden, dass sie nicht die besten Freunde ihrer Kinder sind. Ein Vater ist ein Vater und eine Mutter eine Mutter. Der Generationenabstand muss eingehalten werden. Manches Mal ist das sicher schwieriger geworden in einer Zeit, in der schon die Eltern mit Rolling Stones aufgewachsen sind und heute die selben Radiosender und Hits wie die Jugendlichen hören. In der die Jeans der Tochter auch der Mutter passt, in der der Vater auf das selbe Konzert gehen will wie der Sohn. Das sind Zeichen von Annäherungen und partnerschaftlicher Beziehung zwischen Eltern und Kindern. Diese dürfen aber nicht zu einer Rollen- beziehungsweise einer Generationenirritation führen. Eltern müssen sich bewusst sein, dass sie Vorbildcharakter haben, dass sie die Kraft der Autorität haben müssen, Grenzen zu ziehen und Auseinandersetzungen zu führen.
Für mich selbst ist bei der Erziehung meiner vier Kinder der christliche Glauben eine zentrale Hilfestellung gewesen. Das hängt zum einen damit zusammen, dass Glaube Vertrauen bedeutet, dass ich in der Taufe diese Kinder auch Gott anvertraue und sie daher besser frei lassen kann. Ich muss sie nicht beherrschen und kontrollieren, ihnen aber sehr wohl klare Maßstäbe mit auf ihren Lebensweg geben: Regeln, die in einer Familie zu gelten haben und Regeln, die ich auch für mich persönlich anerkenne, weil sie sonst unglaubwürdige Vorgaben wären.
Der christliche Glaube ist für mich auch wichtig in der Vermittlung von Ritualen, von Standfestigkeit und Lebensmut. Ich finde es traurig, wenn Eltern sagen, ihr Kind solle doch eines Tages selbst entscheiden, welcher Religion es angehören will. Das ist nur gerade nicht liberal, weil Kinder sich nicht entscheiden können, wenn sie gar keine Religion kennen. Meines Erachtens kann sich ein Kind mit 14 Jahren, mit der Religionsmündigkeit nur für eine Religion oder gegen sie entscheiden, wenn es eine Religion kennt. Wie wunderbar sind Rituale, die wir in der Kindheit lernen und die wir weitergeben von Generation zu Generation, mit denen wir uns in eine lange Kette der Überlieferung stellen. Wie einsam sind Kinder, die diese Kette von Überlieferung überhaupt nicht kennen und das Gefühl haben müssen, sie seien die einzigen auf der ganzen Welt. Ob die hohe Suizidrate unter Jugendlichen in unserem Land auch mit dieser Verlorenheit und inneren Sinnlosigkeitserfahrung zusammenhängt?
Die ältere Generation sollte dafür eintreten, dass Leben Sinn macht, dass Leben Höhen und Tiefen kennt. Ich selbst habe von meinen Eltern gelernt, dass auch Kriegserfahrungen, traumatische Erfahrungen verarbeitet werden können. Das ist ungeheuer wichtig für Kinder, für Jugendliche, die ja vor großen Rätseln dieser Welt stehen, die an Überinformation, an Konfrontation mit Sterben und Krieg über die Bildschirme, in virtueller Weise ständig konfrontiert sind. Zur Erziehung gehört, auch über Tod und Sterben zu sprechen. Viel zu oft wird das meines Erachtens ignoriert. Es ist wichtig, dass Kinder lernen: Leben und Sterben gehören zusammen.
Ich denke, Eltern stehen heute vor dramatischeren Herausforderungen als früher. Sie können nicht einfach sagen: "So ist es, basta!", sondern sie müssen sich ernsthaft auseinandersetzen mit den Fragen der jungen Generation, mit den Fragen dieser Welt, mit denen wir konfrontiert sind, mit den Fragen unserer Gesellschaft. Da dürfen sie nicht ausweichen, sondern müssen ihren Mann und ihre Frau stehen, ohne dabei die eigenen Fragen und Zweifel zu verstecken. Und sie müssen die Kraft haben, Grenzen zu ziehen in einer Welt, die sich grenzenlos gibt und Grenzenlosigkeit und Individualität zum Ideal erhebt. Eine Familie leben heißt: Aufeinander Rücksicht nehmen, Zeiten einhalten, Regeln beachten, Werte teilen. Es braucht Kraft, das Miteinander durchzusetzen. Es braucht Mut, ein Kind und mehr Kinder zu haben und die eigene Individualität für das Gemeinsame zurückzustellen. Für eine Gesellschaft aber sind gerade Familien von allergrößter Wertschätzung. Wer in einer solchen Vertrauensbeziehung aufwachsen darf, erhält sozusagen die beste "Schutzimpfung" gegenüber den Auseinandersetzungen und Versuchungen unserer Zeit. Er lernt Vertrauen, erfährt Geborgenheit und Verlässlichkeit - das Aufeinander-Angewiesensein wird eingeübt.
Als Gesellschaft tun wir gut daran, Mut zu Kindern, Mut zur Familie zu machen. Das dürfen dann aber keine hohlen und leeren Worte sein, sondern wir müssen Modelle erstellen, wie wir Familien entlasten können. Flexibilität in den Arbeitszeiten und in den Betreuungseinrichtungen, Großelternbörsen als Freiwilligenagenturen, besonderes Bemühen um die mehr als eine Million Kinder, die in Sozialhilfe aufwachsen - das sind Grundlagen von Familienfreundlichkeit. Und auch die Ermutigung zum Leben, die Zusage des christlichen Glaubens, dass jeder Mensch vor Gott eine eigene Würde hat, ob er nun einen Arbeitsplatz hat oder nicht, ob sie nun schlank und schön ist oder nicht, ob es sich um einen sportlichen Jungen handelt oder einen sterbenden alten Mann. Diese Botschaft wird Kinder im Leben stärken. Und schließlich ist der Mut wichtig, Grenzen zu setzen. Er tut unserer ganzen Gesellschaft gut. Es gibt ein Genug, es gibt eine Grenze, die einzuhalten ist. Eine Gesellschaft, die meint, alles sei grenzenlos, alles sei möglich, alle Werte seien gleich viel wert, alle Anmaßungen seien gleich gültig, sie kann Kindern und Jugendlichen nur Gleichgültigkeit vermitteln und keine Zivilcourage.
Es ist ein Geschenk geradezu, dass zwischen den Generationen heute viel mehr Vertrauen herrscht als früher. Deshalb sollte Erziehung nicht schlecht geredet werden, es gibt hervorragende Errungenschaften. Aber es geht auch um eine Ermutigung zur Erziehung, das heißt, zum Setzen von Maßstäben, zur Auseinandersetzung, zum Kraftakt der partnerschaftlichen Beziehung. Erziehen ist wahrhaftig kein Kinderspiel. Aber es ist eine ungeheure Bereicherung im Leben. Und bei aller Belastung und bei allen Fragen muss auch deutlich werden: Mit Kindern leben, Jugendlichen beim Erwachsenwerden zur Seite zu stehen, das ist einfach eine große und wunderbare Glückserfahrung.
Dr. Margot Käßmann ist seit 1999 Bischöfin der Landeskirche Hannover, Autorin des Buches "Erziehen als Herausforderung; Was können wir tun - was können wir hoffen?", ist verheiratet und hat vier Töchter.