Als Iris Kahan 1993 nach Deutschland kam, ahnte die Israelin noch nicht, wie groß der Kulturschock für sie werden würde. Nicht die deutsch-jüdische Vergangenheit oder die neue Sprache waren die größten Hindernisse, sondern ein ganz anderes Thema spielte plötzlich eine große Rolle: "Erst nachdem 1995 unser Sohn geboren wurde, merkte ich, wie unterschiedlich die beiden Gesellschaften mit Kindern umgehen", sagt die heute 37-Jährige. Wie selbstverständlich war sie davon ausgegangen, dass sie kurz nach der Geburt ihr Studium wieder voll aufnehmen würde.
Als Iris Kahan deshalb versuchte, die Betreuung ihres wenige Monate alten Sohnes Noam zu organisieren, stieß sie jedoch auf breite Skepsis. So erklärte ihre deutsche Schwiegermutter im Brustton der Überzeugung, einjährige Kinder seien schlicht zu jung für eine Tagesmutter. Iris Kahan: "Selbst Freundinnen in meinem Alter hatten nur wenig Verständnis." Aus Israel hatte sie da ganz andere Erfahrungen. "Drei Monate nach der Geburt, wenn der Mutterschutz endet, gehen die Frauen in der Regel wieder arbeiten", erzählt Iris Kahan. Zunächst kümmert sich dann eine "Metapelet" um den Nachwuchs, eine Kinderfrau, die ins Haus kommt. Spätestens mit einem Jahr steht der Besuch im Kindergarten an, dem "Gan" - zuerst in einer Einrichtung für Kleinstkinder, später dann im Gan für Größere. "Dass Erziehung abgegeben und die Verantwortung dafür mit anderen geteilt wird, war für mich von Anfang an völlig normal", sagt die Israelin.
Um so gewöhnungsbedürftiger war für sie die Erfahrung mit dem deutschen Verständnis von Kindheit: "Da geht es nur um's behütete, aber anspruchslose Spielen. Gelernt werden darf nicht in der Familie und auch nicht im Kindergarten, sondern nur in der Schule", lästert die Israelin. Und die Münchener Journalistin und dreifache Mutter Jeanne Rubner schlägt in die gleiche Kerbe: "Das Problem der Deutschen ist ihre überaus romantische Vorstellung der Kindheit - als einer Zeit, die Kinder am besten Zuhause mit der Mutter verbringen, in der man sie möglichst lange von der bösen, kalten Welt fern halten muss." Das sei Unsinn und habe nur zur Folge, dass Vätern, vor allem aber Müttern eine zu große Last aufgebürdet werde.
Mehrheitsfähig ist diese Einstellung in Europa ohnehin nicht. So wurde etwa in England erst kürzlich ein Fünf-Jahres-Plan zur Reform des Bildungswesen vorgestellt, der bei den Konzepten für Vorschulkinder auf den ersten Blick durchaus Parallelen zur deutschen Rechtslage aufweist: Drei- bis Sechsjährige, so die Ankündigung von Erziehungsminister Charles Clarke, sollen in Zukunft zumindest halbtags einen garantierten Betreuungsplatz erhalten - in Deutschland gilt ein entsprechendes Gesetz schon seit Ende der 90er-Jahre.
Doch dann schlug der britische Minister Töne an, die für deutsche Ohren eher ungewohnt klingen: Clarke präsentierte den neu geschaffenen Begriff "educare", eine Mischung aus "Erziehung" und "Betreuung", der eine neue Verantwortung des öffentlichen britischen Erziehungssystems beschreibt. Bis 2008 sollen landesweit 1.000 Grundschulen von 8 bis 18 Uhr geöffnet haben - weit länger als die geplanten Angebote der offenen Ganztagsschulen in Deutschland, die regelmäßig spätestens um 16 Uhr die Pforten schließen. Die Pläne der britischen Regierung seien "ein Schlag gegen schlechtes Schülerbenehmen und schlechtes Elternbenehmen" gleichermaßen, und dieses Signal habe das englische Erziehungssystem gerade gebraucht, macht sich David Hart, Generalsekretär des Schulleiterverbandes National Association of Head Teachers, für die Verlagerung von Erziehungsverantwortung hin zu Kindergärten und Schulen stark.
Längst nicht so rigide wie die aktuellen Pläne in England, aber doch eindeutig in eine ähnliche Richtung läuft es in Frankreich: Dort absolvieren Kinder in der Regel erst die Krippe, dann ein freiwilliges Vorschuljahr und noch ein Pflichtvorschuljahr, bevor es in die Grundschule geht. Buchstaben und mathematische Aufgaben gehören ganz selbstverständlich zum vorschulischen Pensum, so dass das öffentliche Erziehungssystem - von den Eltern völlig akzeptiert - dafür sorgt, dass die Kinder im ersten Schuljahr, wenn es um Noten und Zeugnisse geht, weitgehend auf dem gleichen Stand sind. Die Folge: Ob Kinder aus einem bildungsfernen Haushalt stammen oder nicht, macht sich mit Beginn der Schulzeit kaum noch bemerkbar - schließlich haben alle ein ähnliches Vorschulprogramm durchlaufen.
Davon sind deutsche Kinder noch weit entfernt - nicht zuletzt deshalb, weil es allein in der Verantwortung der Eltern liegt, ob der Nachwuchs mit einem, mit drei oder sogar erst mit sechs Jahren seine ersten sozialen Erfahrungen außerhalb der eigenen Kleinfamilie sammelt. Allerdings sorgt auch ein Kindergartenbesuch nicht automatisch dafür, dass die Kinder so gefördert werden, wie es wünschenswert ist. Das musste jedenfalls Iris Kahan feststellen, als ihr jüngster Sohn Ben im Alter von vier Jahren monatelang mit immer den gleichen Ausmal-Bildern aus der Kindertagesstätte nach Hause kam. Die Vorschulblätter, die der Kleine gerne erledigen wollte, hatte ihm die Kindergärtnerin verweigert - "mit der Begründung, er sei noch kein Vorschulkind und brauche deshalb Buchstaben und Zahlen auch noch nicht zu lernen", ist Bens Mutter immer noch empört.
Sie wünscht sich, dass im öffentlichen System mehr Förderung der individuellen Interessen und Bedürfnisse der Kinder im Vordergund steht: "Das darf nicht nur vom Engagement einzelner Erzieherinnen abhängig sein, sondern muss strukturell verankert werden." Solche Reformen würden jedoch kosten - und sind deshalb zwar wünschenswert, letztlich aber illusorisch, befürchtet Bernd Fichtner. Der Siegener Professor sieht einen ganz anderen Trend: "Gegenwärtig werden in fast allen Ländern die Systeme öffentlicher Erziehung und Bildung vom Kindergarten bis zur Universität in Institutionen des Marktes verwandelt", klagt der Pädagoge und befürchtet, es werde in Zukunft möglicherweise gar keine öffentliche, allgemeine und allgemeinbildende Schule mehr geben. Hintergrund ist das von der Welthandelsorganistion organisierte General Agreement on Trade in Services (GATS). Dieses Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen wurde 1996 auf den Bereich von Bildung und Erziehung ausgedehnt - mit fatalen Folgen für die öffentlichen Erziehungssysteme, findet Fichtner: "Drei Effekte hat die neoliberale Umstrukturierung überall: Die Staatsausgaben für den Bildungssektor sinken, die soziale Ungleichheit im Zugang zum Wissen verschärft sich dramatisch, und die Mittelschichten sympathisieren stark mit diesem Trend."
Dabei sehen Fachleute vor allem die starke Ausrichtung auf Begriffe wie Markt und Effizienz skeptisch. Die Soziologinnen Karin Gottschall und Karen Hagemann bescheinigen Deutschland einen spätestens durch die PISA-Studie belegten "Modernisierungsrückstand: Dies sind der Wandel der Lebensformen, die erhöhte Erwerbsbeteiligung von Frauen, die zunehmende Multikulturalität unserer Gesellschaft." Das alles sei im öffentlichen Bildungssystem noch längst nicht angekommen: "Öffentliche Erziehung erfüllt nicht nur die Aufgabe, die Arbeitskräfte von morgen, sondern auch die Väter und Mütter, die Bürger und Bürgerinnen von morgen auszubilden." Gottschall und Hagemann plädieren deshalb dafür, die öffentliche Verantwortung für Bildung und Erziehung aus ökonomisch und sozialen Gründen nicht nur beizubehalten, sondern noch zu stärken.
Manchmal allerdings treibt die Suche nach der richtigen Balance zwischen privater Erziehung und deren öffentlicher Kontrolle und Korrektur auch kuriose Blüten. Anfang Juli war CSU-Generalsekretär Markus Söder mit dem Vorschlag auf die Titelseiten gestürmt, "schlechten Eltern", die bei der Erziehung versagen, Kindergeld und Sozialhilfe zu kürzen. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Florian Pronold konterte schnell: "Die ersten Opfer einer solchen Regelung wären mit Sicherheit die Eltern von Markus Söder selbst", ätzte Pronold, "sie müssten volle 27 Jahre Kindergeld zurückzahlen, um einen Ausgleich für den Unsinn zu schaffen, den ihr Sohn permanent veröffentlicht." Kein Kabarett könnte schöner sein. Armin Himmelrath
Der Autor ist freier Journalist, Medienbüro Köln.