Familienpolitik ist keine Gemeinschaftsaufgabe - so trocken lässt sich die Tatsache beschreiben, dass jedes Land in Europa nach eigenem Gusto verfährt. Nach dem Prinzip der Subsidiarität wird in den europäischen Verträgen die Familie nicht als Gegenstand gemeinsamer Zielsetzung genannt. Aus dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Berlin ist zu hören, dass niemand ein "europäisches Kindergeld" wolle, aber man sollte doch in Sachen Familienpolitik mit den Neuen näher zusammenrücken. Deshalb lädt das Ministerium Anfang Dezember zu einer großen Konferenz ein, bei der sich die Familienministerinnen und -minister aus allen 25 Ländern austauschen sollen. Titel: "Zukunft Familie - Gemeinsamer familienpolitischer Aufbruch in der EU."
Das Europäische Parlament unternahm in der Vergangenheit, vor allem in der ersten Hälfte der 90er-Jahre, immer wieder Vorstöße zu mehr Gemeinsamkeit, aber die Kommission wehrte sie als Kompetenzüberschreitungen ab. Von engagierten europäischen Familienpolitikern und -politikerinnen wird laut über einen Begriff wie "Family Mainstreaming" analog zum "Gender Mainstreaming" nachgedacht, ein Echo ist kaum hörbar. In der Praxis ist das Thema Familienpolitik eher auf dem Rückzug, denn beispielsweise muss das "Österreichische Institut für Familienforschung" seine EU-Observatory, seine regelmäßigen Berichte über die soziale Situation, Demographie und Familie zum Jahresende einstellen, die neuen Mitglieder konnten gar nicht mehr erfasst werden.
Auch wenn das Europa der 25 keine einheitliche Familienpolitik betreiben darf, gibt es unterschiedliche "Einflugschneisen" für familienrelevante gesamteuropäische Regelungen, denn die Mussnormen auf den Gebieten der Chancengleichheit, des Arbeitsrechts und der Arbeitsbedingungen, des Sozialschutzes, der Migration und Freizügigkeit betreffen natürlich in der Praxis Familien. Im Sommer 2000 verabschiedete der Rat der Minister für Beschäftigung und Sozialpolitik eine Entschließung, die eine ausgewogene Teilhabe von Frauen und Männern am Berufs- und Familienleben formulierte und setzte damit ein wichtiges Ziel moderner Familienpolitik auf die Tagesordnung. Einige Jahre früher beschloss die Gemeinschaft eine Rahmenvereinbarung über Elternurlaub, die 1996 in eine Gemeinschaftsrichtlinie mit Mindestnormen umgewandelt wurde. Die Ausgestaltung blieb bei jedem einzelnen Staat. Eine Politik zur praktischen und effektiven Förderung der Chancengleichheit ist für jedes Land verpflichtend, bereits seit 1994 ist der Grundsatz über gleiche Bezahlung für Frauen und Männer für gleichwertige Arbeit bindend.
Konkrete Familienpolitik ist das alles nicht, aber mit diesen Instrumenten lassen sich Regelungen finden, die für Frauen eine Verbindung von Berufstätigkeit und Familie möglich machen. Die alten Strukturen der staatsregulierten Kinderversorgung und Familienförderung sind in acht der zehn neuen Länder kurz nach dem Ende des Sozialismus zusammengebrochen. Der rigide Einmarsch des Kosten-Nutzen-Rechnens führte sozial in eine Sackgasse - die Verweigerung der Frauen Kinder zu bekommen, ist ein deutliches Indiz - sodass die Staaten nun mithilfe einiger europäischer Instrumente, der Besinnung auf eigene und noch brauchbare Traditionen und der Bereitschaft, Geld in Familien zu investieren, moderne Familienpolitik betreiben können.
Alle 25 Länder der europäischen Gemeinschaft registrieren einen Mangel an Kindern. In der alten Gemeinschaft sank die durchschnittliche Fertilitätsrate bis Mitte der 90er-Jahre auf 1,42 und hat sich seitdem bei der nicht hoffnungsvollen Zahl von 1,45 eingependelt. Den gravierendsten Rückgang haben die Mittelmeerländer wie Spanien und Italien zu verzeichnen. Dort genießen immer mehr Frauen die Freiheit, Mann, Kindern und Schwiegermutter zumindest bis zum 30. Lebensjahr zu entkommen. Generell ist das zunehmende Heiratsalter in Europa einer der Gründe, warum es wenig Kinder gibt. In Deutschland gebären verheiratete Frauen durchschnittlich mit 32 Jahren ihr erstes Kind, unverheiratete - und da drücken die Teenager die Zahlen nach unten - mit 27.
Die neuen EU-Länder liegen mit ihren Fertilitätsraten sogar noch unter denen des "alten Europas". Das Schlusslicht bildet die Tschechische Republik mit einer Fertilitätsrate von 1,17, gefolgt von seiner ehemaligen anderen Hälfte Slowakei mit 1,19, alle anderen dümpeln zwischen 1,24 und 1,30 dahin. Die Zahlen in den neuen Mitgliedsländern der EU zwingen die Politik zum Handeln. Es ist bemerkenswert, dass kurz vor dem Beitritt am 1. Mai in den meistens Ländern dementsprechende Ministerien etabliert und Programme zur Familienpolitik aufgelegt wurden.
Aufschlussreich ist auch, wie die Länder ihre Ministerien nennen. In Estland wird Familienpolitik im "Sotsiaalministeerium", im Sozialministerium gemacht. Familienpolitik erhielt am 1. Januar 2004 mit dem "Parental Benefit Act" eine ausgefeilte juristische Form. Natürlich ist auch hier die drastisch sinkende Geburtenrate die Mutter des Gesetzes. Es enthält fünf Säulen zur Unterstützung von Familien: finanzielle Hilfen in Zeiten der Schwangerschaft, elterliche und generelle Vergünstigungen für Familien, Steuernachlässe und mehr bezahlten Urlaub für berufstätige Eltern.
Insgesamt 140 Tage lang vor und nach der Geburt erhalten berufstätige Frauen ihr volles Gehalt, es wird aus dem Estnischen Fonds der Gesundheitsversicherer bezahlt. Das Elterngeld beträgt 141 Euro monatlich, wird aber nicht länger als ein Jahr ausgezahlt. Jede stillende, berufstätige Mutter darf, bis ihr Kind eineinhalb Jahre alt ist, alle drei Stunden eine 30-minütige Stillpause einlegen. Bei der Geburt des Kindes erhalten die Eltern eine Prämie von 240 Euro, für das zweite und jedes folgende Kind bekommen sie 192 Euro. Das monatliche Kindergeld sowohl für eigene wie adoptierte Kinder beträgt 19,40 Euro. Eltern können bis zum
26. Lebensjahr ihres Kindes Ausbildungskosten absetzen. Von dieser neuen Offensive für die Familie erhofft sich die Regierung viel. In Tallinn haben sich die Geburtstationen der Krankenhäuser bereits auf 20 Prozent mehr Geburten eingerichtet.
Auch erst in diesem Jahr wurde in Lettland aus einem Sekretariat ein veritables Ministerium mit dem Titel "Kinder- und Familienangelegenheiten" Die Letten machen nur gut die Hälfte der Bevölkerung aus, ein großer Bevölkerungsteil ist russischer Herkunft. Bei 2,3 Millionen Einwohnern und einer Fertilitätsrate von 1,24 befürchtet die lettische Regierung eine bedrohliche Dezimierung der Letten. Trotzdem hat sich das Land ebenso wie Estland für eine liberale Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen entschieden. Das neue Ministerium bietet eine kostenlose Beratung für Familien in Krisen an. Im Fokus der lettischen Politik steht die Unterstützung für Kinder. Das reicht von der Kinder-Hotline im Ministerium bis zum Kindergeld, das in diesem Jahr verdreifacht wurde. Aktuell ist Lettland dabei, die Unterstützung für Familien im Parlament zu debattieren; es wird sich an Estland orientieren.
Bei den Europawahlen am 13. Juni erhielt die nationalistische "Liga für die polnische Familie" hohe Stimmzuwächse. Das darf nicht als Signal verstanden werden, dass in Polen Familienpolitik besonders ausgeprägt ist. Bemerkenswert sind die Wandlungen des zuständigen Ressorts, das nie in den Rang eines Ministeriums aufstieg: 1990 hieß es "Beauftragte für Frauen und Familie" kurz darauf wurde es eine "Beauftragte für Familie und Frauen", dann verschwanden die Frauen aus dem Titel und jetzt ist eine "Beauftragte für Gleichstellungsfragen" im Amt.
Von einer strukturell durchdachten Familienpolitik könne, so ist von Nichtregierungsorganisationen zu hören, nicht die Rede sein. Im Augenblick bewegt die Polinnen, dass der Staat die Unterstützung für verlassene Mütter drastisch gekürzt hat. Väter, die sich ihrer Unterhaltsverpflichtung entziehen, können auf schwache Gerichte zählen. Die Gesetze sehen für Frauen in der Mutterschaft eine Jobgarantie vor, die ebenfalls selten gerichtlich durchgesetzt werden kann. Polen hat immer noch ein restriktives Abtreibungsrecht, so dass Polinnen entweder zu illegalen und unsicheren Methoden greifen oder ins Ausland reisen. In der Summe stellt sich die Situation in Polen so dar, dass die alten Sozialssysteme erodierten und noch von keiner modernen Familienpolitik ersetzt wurden - und das bei einer Fertilitätsrate von 1,24.
Familienbelange sind in der Verfassung der tschechischen Republik festgehalten. Sie haben kein eigenes Ministerium, sondern fallen mit einer eigenen Abteilung in die Zuständigkeit des Arbeits- und Sozialministeriums, aber auch des Finanz- und Justizministeriums. In Prag versteht man Familienpolitik als Querschnittsaufgabe. Der Staat versucht, Familien finanziell zu unterstützen. In diesem Jahr wurde das Kindergeld von monatlich 85 Euro auf 119 Euro angehoben. Im Parlament verhandelt man zurzeit weitergehende steuerliche Förderungen der Familie. Schwangere Frauen gehen etwa sechs Wochen vor der Entbindung in den Mutterschaftsurlaub, der insgesamt 37 Wochen dauert.
Die Mutterschaftshilfe kommt aus dem System der Krankenversicherung mit einem Höchstsatz von 430 Euro pro Monat. Nach Ablauf des Erziehungsurlaubs kann die Mutter, oder auch der Vater, eine Zahlung von monatlich 120 Euro erhalten. Auch für tschechische Mütter besteht eine Jobgarantie während ihres Erziehungsurlaubs, hier halten die Traditionen noch. Dafür haben viele der staatlichen Kindergärten geschlossen und private und teurere aufgemacht. Insgesamt praktiziert die Tschechische Republik eine moderne Familienpolitik, aber es hapert wie in vielen Ländern im Übergang an den finanziellen Ressourcen, sodass Familien und alleinerziehende Mütter Gefahr laufen, in die Armut zu rutschen. Wie in vielen postsozialistischen Ländern fehlt den Gerichten die Fähigkeit und die Kraft, die gesetzlichen Rahmenbedingungen durchzusetzen.
Ganz neu ist auch das "Ministerium für Familie und soziale Solidarität" in Malta. Die Regierung unterstützt finanziell Nichtregierungsorganisationen, die sich um Familien kümmern und unterhält auch eigene Wohlfahrtsagenturen. Die öffentlichen Kindergärten für Kinder zwischen drei und fünf Jahren sind kostenlos, kleinere Kinder gehen in private, kostenpflichtige Einrichtungen. Eine Mutter bekommt um die Geburt herum 13 Wochen bezahlten und eine Woche unbezahlten Urlaub. Für Angestellte im öffentlichen Dienst kann der Arbeitsplatz ein Jahr vorgehalten werden. Diese Zeit können sich die Eltern teilen. Im privaten Sektor gibt es pro Kind nur eine unbezahlte Freizeit bis zu drei Monaten. Abtreibung ist in Malta illegal.
Auch in Ungarn wurde ein neues "Ministerium für Gesundheit, Soziales und Familienangelegenheiten" gegründet; in Slowenien heißt es "Ministerium für Arbeit, Familie und Sozialangelegenheiten"; in der Slowakei sind auch Arbeit, Soziales und Familie zusammengefasst. In Litauen taucht "Familie" in keinem Ministeriumstitel auf, ebenso in Zypern. Familienpolitik differiert im alten Europa, das setzt sich im neuen fort. Die Franzosen, die den höchsten Satz, nämlich 4,5 Prozent ihres Bruttosozialprodukts für Familien ausgeben, haben mit 1,71 Prozent eine relativ hohe und seit Jahren stabile Geburtenrate.
Auch wenn Zypriotinnen und Polinnen sich auf die gleichen Grenzwerte von Blei im Trinkwasser berufen können, dürfte es für die meisten von größerem Interesse sein, wie gut es ihnen und ihrer Familie geht, ob genügend Kindergartenplätze da sind oder ob jedes Kind einen herben Karriereknick bedeutet. In Zukunft sind ähnliche Standards in der Familienpolitik erstrebenswert. Noch zukunftsweisender wäre es, wenn sich die europäischen Regierungen den Zielen und dem Geist der UN-Konferenz für Bevölkerung und Entwicklung in Kairo 1994 - dieses Jahr wird "Kairo + 10" begangen - aktiv verpflichten würden. Denn der innovative Ansatz von Kairo war, nicht nur reproduktive Gesundheit und Rechte einzufordern, sondern auch sexuelle Gesundheit und Rechte.
Um diese Menschenrechte erweitert ist Familienpolitik mehr als Kindergeld und Kindergarten. Das Verbot von Abtreibung hilft - wie an den Fertilitätsraten abzulesen ist - jedenfalls nicht. Erst wenn Frauen und Männer die Freiheit der Wahl haben und für ihre Entscheidung die Unterstützung der Politik erhalten, werden sie wieder mehr Kinder haben wollen.
Margit Miosga ist freie Journalistin und lebt in Berlin.