Die Geschichte der Entwicklungshilfe aus den zurückliegenden 50 Jahren ist zunächst eine Geschichte des gegenseitigen Lernens. Nicht zuletzt aus Fehlern. Niemand kommt heute mehr auf den Gedanken, aus Entwicklungshilfegeldern wie einst in Indien riesige Stahlwerke zu bauen, die letztlich niemand braucht und die als Ruinen verkommen. Und niemand wird heute mehr Gebäude errichten ohne die Menschen zu fragen. Schließlich will auch Helfen gelernt sein. Und so ist aus Entwicklungshilfe längst Entwicklungszusammenarbeit geworden, die freilich zu einem großen Teil noch immer eine Einbahnstraße vom Norden zum Süden ist.
Die Globalisierung, die durch Rundfunk, Fernsehen und Internet erst möglich wurde, hat den Armen auf der südlichen Erdhalbkugel ein - oft verzerrtes - Bild vom Reichtum der Menschen auf der nördlichen vermittelt. Nun fordern sie Teilhabe ein. Die ausgestreckte Hand mit einer leeren Schüssel - mit der "Brot für die Welt" viele Jahre um Spenden für Nahrung zugunsten der Dritten Welt geworben hat -, ist heute nicht mehr gefragt. Auch wenn immer wieder Katastrophen ungezählte Menschen in die Flucht treiben, sie auf Lebensmittel der internationalen Hilfsorganisationen zum nackten Überleben hoffen lässt.
Teilhabe bedeutet zunächst einmal Freiheit von Hunger und vermeidbaren Krankheiten. Auch Bildung für die Kinder und die Sehnsucht nach ein wenig Wohlstand - einem Dach über dem Kopf, einem eigenen Stück Land, einer eigenen Werkstatt, sich ab und zu "etwas leisten zu können". Teilhabe bedeutet heute zugleich Mitbestimmung in gesellschaftlichen und politischen Fragen, zielt auf die Demokratisierung aller Lebensbereiche ab. Und Teilhabe bedeutet gerechte Preise für die Produkte und Rohstoffe
Umgekehrt beginnt die nördliche Erdhalbkugel zu begreifen, dass die Bürgerkriege auf der südlichen Erdhalbkugel immer neue Flüchtlingsströme entstehen lassen, die sich nach Norden richten können. Gleiches gilt für die Opfer der Naturkatastrophen. Die nach wie vor ungehemmte Zerstörung des tropischen Regenwaldes ist längst keine innere Angelegenheit mehr von Brasilien, Zentralafrika oder Teilen Asiens, sondern hat Auswirkungen auf das weltweite Klima. Der ungehemmte Verbrauch fossiler Energien ist kein Problem nur der wohlhabenden Staaten, sondern auch der so genannten Schwellenländer mit einem atemberaubenden Wirtschaftswachstum wie China. Dadurch wird nicht nur der Preis für Öl und Stahl in die Höhe getrieben, sondern auch der Ausstoß von Kohlendioxid.
Zurück zum Menschen aus dem alten chinesischen Sprichwort, der zwischenzeitlich selbstbewusster geworden ist. Er steht heute nicht mehr nur für sein Recht auf Leben, sondern auch für ein gewandeltes Verständnis, was er zum Leben benötigt. In Oswald Nell-Breuninng SJ, dem großen Sozialphilosophen des 20. Jahrhunderts, hat er einen entsprechenden Anwalt. Nell-Breuning machte sich nicht nur stark für eine Schüssel Reis, die jedem Menschen zustehe, sondern auch für ein Stück Fleisch und eine Portion Gemüse: Der Mensch lebt nicht nur von dem, was den Magen füllt. So benötigt der Mensch, der das Fischen gelernt hat, heute eine ganze Menge mehr, als die frühere gutgemeinte Hilfe leisten konnte: Um auf Fischfang gehen zu können, braucht er Gesundheit (bezahlbare Ärzte, an die er sich im Fall von Krankheit oder Unglück wenden kann), ein fangtaugliches Boot (damit Banken, die ihm dafür einen zinsgünstigen Kredit geben), freien Zugang zu Flüssen, Seen oder Meere (die nicht verseucht oder leergefischt sind), Märkte (auf denen er die Fische, die er nicht für sich und seine Familie selbst benötigt, zu einem gerechten Preis verkaufen kann). Und es muss Menschen geben, die ihm den Fisch abkaufen können.
Was für den Menschen gilt, der das Fischen gelernt hat, gilt auch für die Staaten der Dritten Welt. Und so ist aus der Entwicklungshilfe längst eine wirtschaftliche Zusammenarbeit geworden. Zur Partnerschaft hingegen ist der Weg noch weit. Zum einen, weil sich die Industriestaaten nach wie vor schwer tun, gerechte Preise für Rohstoffe zu zahlen. Zum anderen, weil die Verantwortlichen vieler Länder auf der südlichen Erdhalbkugel zu wenig tun, um das starke Gefälle zwischen Arm und Reich im eigenen Land zu beseitigen und die Korruption nicht in den Griff bekommen.
Immerhin ist es der Welthandelsorganisation (WTO) endlich gelungen, die Agrarsubventionen des Nordens für die Länder des Südens stark einzuschränken und die Zölle für Waren aus armen Ländern zu liberalisieren. Nun müssen möglichst schnell konkrete Vereinbarungen getroffen und in die Tat umgesetzt werden. Denn ein gerechter Welthandel nutzt den armen Ländern mehr als staatliches Fördergeld aus dem Norden.
Die Zusammenarbeit zwischen Nord und Süd schließt inzwischen auch die armen Länder auf der nördlichen Erdhalbkugel ein, die früher zum sowjetischen Imperium gehörten und es nun schwer haben, aus eigener Kraft ihren Menschen eine Teilhabe am Leben zu ermöglichen. Wichtig ist, dass diese Zusammenarbeit auf gleicher Augenhöhe erfolgt. Das erfordert manchmal auch ein Ende dieser partnerschaftlichen Zusammenarbeit - dann nämlich, wenn Länder ihren Menschen die einfachsten Rechte vorenthalten, mehr an der Sicherung ihrer Elite als an der Förderung der Lebensverhältnisse interessiert sind, mehr Geld für Rüstung als für Gesundheit und Bildung ausgeben.
Ein Blick auf die täglichen Nachrichten lässt viele Menschen fragen, ob es überhaupt möglich ist, die Vision von der Halbierung der Armut bis 2015 zu erreichen - wobei dann immer noch 400 Millionen Menschen in bitterster Armut leben werden? Der Regenwald Brasiliens brennt und brennt. Millionen Menschen sind im Sudan auf der Flucht. Zehntausende sterben oder hungern im Kongo. Regelmäßig suchen Sturmfluten weite Teile von Bangladesh, Indien und China heim. Dazu kommen regelmäßig Dürrekatastrophen, Erdbeben...
"Ein Fass ohne Boden", sagen die einen, wenn sie das Wort Entwicklungshilfe hören. "Das Hemd ist uns näher als der Rock", finden die anderen, vor allem, wenn sie an die einschneidenden sozialen Reformen im eigenen Land denken. Doch die einen verkennen, wie die Welt aussehen würde, wenn es keine Entwicklungshilfe geben würde, und die anderen, dass diese Hilfe sehr viel mit unserer eigenen Zukunft zu tun hat. Dabei geht es nicht nur um Klima und Frieden, sondern auch um den eigenen wirtschaftlichen Wohlstand. Staatliche Hilfe für die Dritte Welt - nach Expertenschätzung hat allein Deutschland bislang 150 Milliarden Euro dafür aufgewandt - die Zukunftsmärkte im Blick, die für die so stark vom Export abhängige Bundesrepublik überlebenswichtig sind. Schließlich geht es um wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auf gleicher Augenhöhe.
Die Halbierung der Armut - Vision oder Möglichkeit? Nie hätte der Mensch den Mond betreten, hätte er nicht die Vision gehabt, in den Weltraum vorzustoßen. Nie wird der Mensch die Armut auf dieser Erde bis 2015 halbieren, wenn er nicht die Vision hat, es zu wollen. Selbst "ein Weg von tausend Meilen in Afrika, Asien und Lateinamerika beginnt mit einem Schritt" ("Misereor"). Man muss nur diesen ersten Schritt tun. Sonst wird aus der großen Vision nichts, allen Menschen das Fischen zu und damit die Teilhabe an einer gerechten und freien Gesellschaft zu ermöglichen.