Der Europäischen Union fehlen identitätsstiftende Ressourcen, etwa eine gemeinsame Sprache oder eine loyalitätsstiftende Krone wie im britischen Commonwealth of Nations. Die große Herausforderung der kommenden Jahrzehnte liegt folglich darin, zu einer verbindenden europäischen Identität zu gelangen. Die Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe gehen der Frage nach, ob und wieweit die Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedsländer Europas den Integrationsprozess unterstützen. Sie untersuchen, wodurch dieser befördert oder behindert wird. Empirische Analysen haben ergeben, dass der Einigungsprozess - insgesamt gesehen - stets mehr Zustimmung als Ablehnung erfahren hat. Durch die im Mai 2004 erfolgte Erweiterung um zehn mittel- und osteuropäische Länder, mehr noch durch den möglichen Beitritt der Türkei, wird die Weiterentwicklung Europas auf eine harte Probe gestellt.
Im Verlaufe des Prozesses der europäischen Integration kommt es sukzessive zur Herausbildung neuer Kriterien der Willensbildung, die sich von denen der Nationalstaaten qualitativ unterscheiden - so M. Rainer Lepsius in seinem Essay. Auf diese Weise erfolge eine langsame Europäisierung der Nationalstaaten, deren Bedeutung als zentrales politisches Identifikationsobjekt dadurch aber nicht geschmälert werde.
Mit der Vergrößerung der Europäischen Union schrumpft das Vertrauen, das die Mitgliedsländer ineinander setzen. Ungeachtet dieses Ergebnisses ist Jan Delhey optimistisch, dass die Westeuropäer langfristig mehr Vertrauen in die Menschen aus den neuen Mitgliedsstaaten entwickeln werden. Einen Beitritt der Türkei hält er wegen der großen geographischen und kulturellen Distanz zu (West-) Europa allerdings für noch problematischer als die Osterweiterung. Tatsächlich wird die europäische Werteordnung von der türkischen Bevölkerung partiell nicht akzeptiert. Jürgen Gerhards, der auf Basis empirischer Untersuchungen zu diesem Ergebnis gelangt, sieht dessen ungeachtet keinen Grund dafür, der Türkei den Beitritt zur EU zu verweigern. Es sei davon auszugehen, dass sich mit der allmählichen Angleichung des ökonomischen Niveaus der Türkei an das der Mitgliedsländer der EU auch die Werte der Menschen veränderten.
Die Bürgerinnen und Bürger der derzeit 25 Mitgliedsstaaten der EU akzeptieren die europäische Werteordnung. Aber unterstützen sie auch den Integrationsprozess, fragt Sylke Nissen? Ihre Antwort ist eher pessimistisch, hängt die gefühlsmäßige Verbundenheit mit Europa doch offenbar davon ab, inwieweit die Mitgliedschaft in der EU unter Kosten-Nutzen-Kalkülen als vorteilhaft gewertet wird. Demgegenüber stellen nationale Orientierungen für die Unterstützung europäischer Werte nicht unbedingt ein Hindernis dar. Zu diesem Ergebnis gelangt Detlef Pollack anhand einer Analyse nationaler Orientierungen und Identitäten in den postkommunistischen Ländern Mittel- und Osteuropas. Eine Mehrheit in der Bevölkerung halte nationale Orientierungen und europäische Identität für vereinbar und stehe westlichen Werten dementsprechend offen gegenüber. Ein regionaler Nationalismus könne aber zu einer Gefahr für Europa werden, wenn sich über ihn Gefühle der Schlechterstellung und Benachteiligung Gehör verschaffen wollten.
Große sozioökonomische Ungleichheiten in Europa können folglich kontraproduktiv für die Integrationsbemühungen sein. Umgekehrt - so Steffen Mau - kann der Europäisierungsprozess aber auch verstärkend oder abmildernd auf vorhandene Ungleichheiten wirken. Auf der Basis einer Bestandsaufnahme sozialer Ungleichheiten zeigt der Autor Möglichkeiten und Grenzen des Umgangs mit sozialen Ungleichheiten auf.