In der Rigaer Altstadt herrscht jeden Tag bis in den Abend hinein geschäftiges Treiben. 13 Jahre nach der Rückkehr in die Unabhängigkeit erlebt die ehemalige Sowjetrepublik Lettland einen anhaltenden wirtschaftlichen Aufschwung. Dafür gibt es beispielsweise in der Hauptstadt anschauliche Zeugnisse. Buntdekorierte Schaufenster bieten von Lebensmitteln über Zeitschriften, schicke Kleidung oder moderne Mobiltelefone buchstäblich alles an.
Irina Kalenko hat allerdings keinen Anteil an diesem neuen Wohlstandsboom. Die 57-Jährige verkauft Drogerieartikel und ist froh, dass sie überhaupt eine Arbeit gefunden hat. Auskömmlich leben kann sie von ihrem Gehalt nicht. "Ich bekomme den Mindestlohn, das sind umgerechnet 118 Euro. Dafür arbeite ich zehn Stunden. Im Sozialismus war ich Buchhalterin und hatte eine schöne Dreizimmerwohnung. Die musste ich jetzt gegen ein kleineres Appartement tauschen. Trotzdem käme ich ohne die Unterstützung meines Sohnes nicht durch."
Im Zuge der Umstellung auf die Marktwirtschaft hat die lettische Regierung vor zwei Jahren gemeinsam mit Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden einen Mindestlohn festgelegt. Für diesen Mindestlohn werden auch Steuern und Abgaben gezahlt. Damit wollte man den Arbeitnehmern mehr soziale Absicherung garantieren, weil viele bis dahin nur illegal beschäftigt waren. Die Firma bestimmte den Lohn, zahlte jedoch keine Steuern und Sozialabgaben. Alles eine Folge der schlechten Wirtschaftssituation in Lettland nach der Unabhängigkeit, als die großen Kombinate liquidiert oder privatisiert wurden. Ihr bis dahin wichtigster Absatzmarkt im Osten war nicht mehr zugänglich, und sie mussten neue Märkte finden. Obwohl viele Letten heute klagen, dass der Mindestlohn zu niedrig sei, sieht die Vorsitzenden des Arbeitgeberverbandes Elina Egle auch Vorteile in harten Einschnitt.
"Der Mindestlohn ist ein Instrument gegen die Schwarzarbeit, denn wir können jetzt rechtlich gegen sie einschreiten. Trotzdem gibt es immer noch viele Betriebe, die Steuern hinterziehen. Offiziell zahlen sie ihren Angestellten zwar nur den vorgeschriebenen Mindestlohn, für den sie außerdem nur minimale Steuern zahlen, den Rest des Gehalts gibt es anschließend unter der Hand im diskreten Briefumschlag."
Maris Berkins hat es schwer, mit seinem kleinen Sägewerk neben den großen Holzfabriken zu bestehen. Unmittelbar nach der Unabhängigkeit seines Heimatlandes im jahre 1991 hat er seinen Betrieb quasi aus dem Nichts, ohne Zuschüsse oder Bankkredite aus dem Boden gestampft. Darum sind bei ihm auch die meisten Arbeiter zum gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn angestellt - zumindest offiziell.
"Wenn ich alle Steuern zahlen würde, die ich gezwungen bin zu zahlen, bliebe ich ohne jeden Gewinn und könnte keine einzige Maschine mehr kaufen, um im harten Konkurrenzkampf zu bestehen. Auch meine Arbeiter sind froh, mehr bar auf die Hand zu bekommen. Also einigen wir uns, wieviel sie offiziell und wieviel sie unter der Hand verdienen."
Würde der erfolgreiche Sägewerksbesitzer ihnen das vorgeschriebene, branchenübliche Gehalt zahlen, dann erhielten seine besten Leute netto bis zu umgerechnet 580 Euro. Brutto kämen dann noch einmal 290 Lohnnebenkosten hinzu. "Unter diesen Umständen könnte ich dicht machen", meint Maris Berzins.
Die lettische Regierung geht allerdings davon aus, dass der Missbrauch des Mindestlohns jeden zehnten Arbeitnehmer im Land betrifft. Vor allem im Handel und in der Baubranche versuchen die Betriebe, auf phantasievolle Weise die so dringend benötigten Steuern zu hinterziehen, um nicht Pleite zu gehen. Diese illegale Vorgehensweise schadet natürlich dem Wachstum des lettischen Haushalts beträchtlich, denn der benötigt die Gelder der Steuerzahler dringend. Deshalb wird darüber nachgedacht, den Mindestlohn schrittweise zu erhöhen. Die jüngste Lohnerhöhung kam vor einigen Monaten Anfang 2004. Wichtigstes Anliegen dieser Maßnahme sei es gewesen, die Arbeitnehmer zu mehr Ehrlichkeit zu motivieren, erklärt Agrita Goza vom lettischen Wohlfahrtsministerium. Sie sieht die ganze Angelegenheit mehr als optimistisch und ist der Überzeugung, dass die Schwarzarbeit bald der Vergangenheit angehören werde.
"Heute beträgt der Durchschnittslohn in Lettland umgerechnet 320 Euro, der bisherige Mindestlohn macht nicht mal die Hälfte dieser Summe aus. Deshalb ist es unser Ziel, dass er zukünftig zwei Drittel des momentanen Durchschnittslohnes betragen soll. Ich denke, dass wir dieses anspruchsvolle Ziel schaffen werden. Wir haben seit einigen Jahren ein Wirtschaftswachstum, so dass wir mit diesen Problemen in fünf bis zehn Jahren soweit sein werden."
Birgit Johannsmeyer