Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an": Alte Schlager gewinnen manchmal ungeahnte Aktualität. Mit 66 Jahren hat Bremens Bürgermeister Henning Scherf (SPD) Ende September beschlossen, sein Amt abzugeben, damit er nicht "mit den Füßen zuerst aus dem Rathaus getragen" wird. Seine völlig überraschte Partei schaffte es innerhalb von zweieinhalb Wochen, einen Nachfolger zu küren: Jens Böhrnsen (56), bisher Chef der SPD-Bürgerschaftsfraktion, soll im November vom Landesparlament zum neuen Regierungschef gewählt werden und dann auch Scherfs Nebenamt als Justizsenator übernehmen. Böhrnsens Gegenkandidat Willi Lemke unterlag bei einer SPD-Mitgliederbefragung unerwartet klar und bleibt nun das, was er bisher war: Senator für Bildung und Wissenschaft.
"Schade, dass er geht", meinten die einen nach Scherfs Rücktrittsankündigung, während andere fanden: "Das wurde aber auch Zeit." Der Bürgermeister, der bis Böhrnsens Wahl noch im Amt bleibt, ist das dienstälteste Mitglied einer deutschen Landesregierung: 27 Jahre lang leitete er wechselnde Ressorts; die letzten zehn Jahre war er Chef im Rathaus und hielt seine große Koalition zusammen.
Mehrmals schon hatte Scherf von Rücktritt gesprochen, seine Ankündigungen aber nicht wahr gemacht. Nie schien gerade der richtige Zeitpunkt gekommen. Mal war der letzte Wahlsieg des Spitzenkandidaten Scherf noch zu frisch, mal stand der nächste Urnengang zu dicht bevor. Dann trat sein vertrauter Vize Hartmut Perschau (CDU) wegen Krankheit zurück - da durfte doch der SPD-Garant für die große Koalition nicht auch noch abdanken. Und schließlich ging es mit der Bundespartei so bergab, dass der populäre "Omaknutscher" seine Genossen gerade da nicht im Stich lassen wollte.
Äußere Gründe, den Abschied hinauszuzögern, gab es also genug - aber wohl auch einen inneren: Das Regieren war Scherf zu einem wichtigen Lebensinhalt geworden. Loslassen fällt da nicht so leicht.
Dabei wäre vor allem der linke Parteiflügel ihn gerne früher losgeworden: wegen seines Schmusekurses gegenüber der CDU und wegen seines oft eigenmächtigen Regierungsstils ohne große Rücksicht auf die Genossen. Sogar Familie und Freunde drängten ihn zum Aufhören. Seine Frau hatte ihm Ende 2003 extra einen Restlaufzeit-Kalender zum Abschneiden geschenkt, der im Juni 2005 enden sollte. Doch Scherf hörte schon ein Jahr vorher mit dem Abtrennen auf, weil er weiter regieren wollte.
Diesmal jedoch meint er es ernst. "Ich habe auch ein Menschenrecht auf ein Leben nach der Arbeit", findet der "Methusalem der Politik" (Scherf). Auslöser für den Abgang, so erzählt er es jedenfalls, war das gute SPD-Bundestagswahlergebnis. Scherf hatte sich wenig am Wahlkampf beteiligt, sondern lieber mit Enkeln Urlaub auf der Insel Spiekeroog genossen. Trotzdem fuhr die Bremer SPD fast 43 Prozent ein. Damit war klar: Es geht auch ohne den Menschenfischer Scherf. Zudem schien der Rückzugstermin günstig, weil bis zur Bürgerschaftswahl 2007 dem Nachfolger noch genug Zeit bleibt, sich beim Volk bekannt und beliebt zu machen.
Böhrnsen kann diese Einarbeitungszeit gut gebrauchen. Nicht nur überregional, sondern auch in Bremen löste sein Name bisher oft die Frage aus: "Jens wer?" Dabei führt er schon seit sechs Jahren die SPD-Fraktion und ist mehrfach durch Kritik an der Senatspolitik aufgefallen, die ihm nicht sozial genug erscheint. Anders als Scherf ist der einstige Verwaltungsrichter kein leutseliger Umarmer, sondern ein solider Sachpolitiker, der sorgfältig Akten studiert, aber zugleich den Charme eines sympathischen Schwiegersohns ausstrahlt.
Sein quirliger Gegenkandidat, Ex-Werder-Manager Willi Lemke (59), ähnelt dagegen mehr dem scheidenden Regierungschef. "Willi Wirbelwind" ist in der Bevölkerung viel bekannter und beliebter als Böhrnsen, der dafür in der Partei mehr Ansehen genießt. Für das Kandidaten-Duell hatte Lemke noch versucht, das Hauptanliegen seines Konkurrenten für sich zu besetzen: soziale Gerechtigkeit. Da zog Böhrnsen, Sohn einer von den Nazis verfolgten gewerkschaftlich und sozialdemokratisch engagierten Familie, eine andere Trumpfkarte: Er warf dem Koalitionspartner "neoliberale Verirrungen" vor und kündigte an, im Senat die "sozialdemokratische Handschrift" deutlicher zu machen.
Das kam gut an bei den 2.666 Genossinnen und Genossen, die sich an der "konsultativen Mitgliederbefragung" zur Kandidatenauswahl beteiligten: 72 Prozent stimmten für Böhrnsen und nur 27 Prozent für Lemke. Inzwischen schloss sich ein Landesparteitag fast einstimmig dem Basisvotum an. Jetzt muss der Nominierte nur noch die CDU überzeugen: Sie will mit ihm zunächst über seine Kritik an der Koalition reden, bevor sie in der Bürgerschaft für ihn stimmt.
Fast hätte auch noch der SPD-Bundestagsabgeordnete Volker Kröning kandidiert, aber ihm passte das Auswahlverfahren nicht: Nach seiner Meinung hätte der Landesvorstand selber einen Scherf-Nachfolger vorschlagen sollen, statt die Basis nach ihrer Meinung zu fragen. Das kostete ihn viele Sympathien.
Böhrnsen weiß, dass auf ihn eine "Riesenherausforderung" zukommt. Bremen ist quasi pleite und kann nur mit weiterer Hilfe von außen überleben. Der Neue will "selbstbewusst" mit Verhandlungen und einer Verfassungsklage für einen günstigeren Länderfinanzausgleich kämpfen, aber zugleich den Rotstift schwingen, ohne den Stadtstaat "kaputt zu sparen".
Henning Scherf kann sich dagegen auf den Unruhestand freuen. "Ich bin total erleichtert - als ob ich ein Kind gekriegt hätte", sagte er nach seiner Rücktrittsankündigung. Endlich hat er jetzt mehr Zeit zum Malen, Musizieren, Reisen und Sprachen lernen. Und für seine sechs Enkel. Und für die sieben Mitbewohner seiner Hausgemeinschaft. Als die auf seinen Abgang anstoßen wollten, ließ er sich allerdings nicht zum angebotenen Rotwein verführen. Er schlürfte lieber heißes Wasser, wie immer.