Jeder möchte hier Präsident sein", empört sich der haitianische Übergangspremier Gérard Latortue über die hohe Anzahl von Anwärtern auf den höchsten Posten im Lande, "das ist doch absurd." Genau 35 Kandidaten tummeln sich auf den Wahllisten für den Einzug in den Präsidentenpalast am 7. März. Dabei zählt der Inselstaat gewiss nicht zu den verlockendsten Ländern der Welt für einen Regenten. Das Land liegt wirtschaftlich und politisch am Boden. Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung leben in Armut, über die Hälfte kann weder lesen noch schreiben, die Lebenserwartung ist auf 53 Jahre zurückgegangen. Über fließendes Wasser, Nahrung und Strom verfügen nur die wenigsten Haitianer. Die Gleichzeitigkeit von politischen Krisen und Naturkatastrophen hat vor allem die Armen stark getroffen. Tausende wurden obdachlos, die durch Hurrikane ausgelösten Fluten des vergangenen Jahres zogen Hunderte ins Meer, um sie später tot an die Strände wieder zurückzuspülen.
"Den Amtsanwärtern geht es vor allem um Dienstvillen, Dienstwagen und Pfründe", erklärt der Schriftsteller Hans-Christoph Buch, "immerhin zeigt die Geschichte, dass sich als haitianischer Politiker immer eine Million beiseite schaffen ließ." Das Land gilt als eines der korruptesten der Welt. Den politischen Führern gelang es nicht, die kolonialen Strukturen aufzubrechen und eine Republik zu schaffen, die sich um die Grundbedürfnisse der gesamten Bevölkerung kümmert. "Dennoch fühlt sich fast jeder männliche Haitianer dazu befähigt, ein Staatsamt zu bekleiden", so Buch, der selbst haitianische Vorfahren hat und dem Schicksal der Insel sehr kritisch gegenübersteht.
Jean Bertrand Aristide hatte das Land ins Chaos geführt, dem organisierten Verbrechen Tür und Tor geöffnet, die Bevölkerung polarisiert und durch seine Schlägertruppen - die vor allem aus jugendlichen Arbeitslosen rekrutierten "Schimären" - eingeschüchtert. Eine Koalition aus politischer Opposition und bewaffneten Rebellen hatte ihn schließlich zur Flucht gezwungen. Doch schon wenige Tage später meldete er sich aus dem Exil zurück und erklärte in einer Radiosendung, entführt worden zu sein. Zusätzlich stachelte der zum zweiten Mal geschasste Präsident seine Anhänger noch auf.
Seine "Schimären" stellten sich auch nach dem Scheitern Aristides weiterhin an seine Seite. UN-Kräfte wurden daher ins das Land berufen, um die durch Korruption und mangelhafte Ausstattung fast zur Handlungsunfähigkeit verkommene haitianische Nationalpolizei zu unterstützen und der neuen Regierung den Weg zu ebnen. Mehr als 8.500 Uniformierte, darunter 7.273 Soldaten und 1.594 Polizisten aus mehr als 40 Staaten sollen ihr bei der Rückeroberung des staatlichen Gewaltmonopols und der staatsfreien Räume helfen.
Latortue, ein erfahrener Wirtschaftsprofessor, hatte einen schnellen, aber schweren Start. Der ehemalige Mitarbeiter der Vereinten Nationen und Entwicklungsexperte wurde eiligst von einem "Rat der Weisen" für den Posten des Übergangspremiers nominiert und konnte sich als perfekter Kompromisskandidat durchsetzen, weil er keiner Partei zu nahe stand. Ihm und seinem elfköpfigen Kabinett wurde vor allem die Organisation von Neuwahlen ans Herz gelegt. Die Neubesetzung aller politischen Ebenen, angefangen beim höchsten Amt im Staate, über die beiden Kammern des Parlamentes bis hin zu den Gemeinderäten, soll den demokratischen Neuanfang ermöglichen und das Vertrauen der Bevölkerung zurückgewinnen - angesichts grassierender Armut, Gewalt und mangelnder Infrastruktur ein schwieriges Unterfangen.
"Die letzten Wahlstationen haben wir auf dem Rücken von Eseln zu den Menschen gebracht", berichtet die Kanadierin Elizabeth Spehar, die von der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) zur Unterstützung des Registrierungsprozesses der wahlberechtigten Haitianer eingeflogen wurde, "anders wären wir nicht in die entlegenen Gebiete gekommen." 67 Prozent der neun Millionen Haitianer leben auf dem Land, viele davon in den Bergen. Um der geschwächten haitianischen Regierung bei ihrem Neuanfang zu helfen, hat die OAS nicht nur finanziell geholfen sondern auch einen Großteil der Durchführung übernommen. Um politische Einflussnahmen und Korruption zu verhindern, aber auch um die aufwendig gesammelten Daten später noch zu anderen Anlässen nutzen zu können, scheute die regionale Organisation keinen Aufwand und ließ sogar modernste Technik einfliegen. Häufig mussten die Haitianer allerdings mehrfach zu den Posten kommen, weil immer wieder die Stromgeneratoren ausfielen oder der Regen die Solarenergie für die Laptops unterbrach.
In den Städten sah sich das Team von Spehar dem Widerstand der "Schimären" ausgesetzt. Zwischen Wellblech, unverputzten Mauern und Kartons lieferten sie sich im vergangenen Jahr fast täglich Auseinandersetzungen mit der Haitianischen Nationalpolizei und den von den Vereinten Nationen entsandten Sicherheitskräften. Mehr als 600 Menschen, darunter zahlreiche Zivilisten, kamen dabei ums Leben. Die hohen Müllberge waren es, die den Sicherheitskräften ironischerweise schließlich den Weg ebneten. Gerade in den Slums von Cité Soleil, Bel Air und Dessalines konnten sie durch die künstlichen Brücken die Kontrolle über die schier unüberschaubaren Labyrinthe der Armenviertel zurückgewinnen und den Weg für die Registrierungsbüros ebnen. "Die Lage hat sich wirklich verbessert", dankt Elizabeth Spehar, "das wichtigste Hindernis konnte erst einmal geräumt werden." Auf den Straßen von Cité Soleil patroullieren nun auf einer Seite die Vereinten Nationen und die Polizei, auf der anderen die Banden. Zwar ist die Lage noch immer angespannt, Gefechte aber sind deutlich seltener.
Mehr als 3,4 Millionen Haitianer konnten insgesamt erfasst werden. "Fast alle hatten Zugang zu den Registrierungsbüros", schließt Spehar, die erfolgreich um die Verlängerung der Registrierungsfrist in den gefährlichen Gebieten um zwei Wochen gebeten hatte. Neben ihrer Zulassung zur Wahl erhalten die registrierten Haitianer auch ein neues offizielles Dokument, das sie als haitianische Staatsbürger ausweist und später zur Identifizierung bei Banken und Polizeikontrollen verwenden können. Vor allem den Armen soll es helfen, von denen nur noch die wenigsten eine Geburtsurkunde besitzen.
Die Skepsis der Haitianer konnte durch den erfolgreichen Registrierungsprozess ein wenig gedämpft werden. Die Menschen dürsten nach einem Aufschwung. Der zweite Akt der Wahlvorbereitungen steht ihnen jedoch erst noch bevor. Der Termin wurde aufgrund der Unsicherheit, aber auch der komplizierten Prüfung aller Kandidaten immer wieder verschoben. Die für die Wahlen verantwortliche Wahlkommission (CEP) ist heillos zerstritten. Alle wichtigen politischen Institutionen versuchen ständig, Einfluss auf sie zu nehmen. Das führt nicht selten zu einer Totalblockade. Weil die Kommission, nachdem sie zwei unerfüllbare Termine vorgeschlagen hatte, gar nichts mehr von sich gab, setzte Premierminister Latortue spontan selbst einen dritten Termin für die Wahlen fest. Demnach sollte kurz vor Silvester die erste Runde der Präsidentschaftswahlen stattfinden. Es wäre ein für Haiti wenig geeigneter Termin gewesen, da die meisten Einwohner über Weihnachten aus den Städten zurück aufs Land ziehen, sich also nicht dort befinden, wo sie zur Wahl registriert sind. Erst unter diesem Druck einigte sich der Wahlrat dann auf den 8. Januar für den ersten, den 15. Februar für den zweiten Wahlgang und den 5. März für die Gemeinde- und Lokalwahlen.
Die Ausdauer des Pemierministers Latortue, der wohl erste seiner Art auf Haiti, der freiwillig und kontinuierlich seinem eigenen Ende als Regierungschef entgegenarbeitet, scheint sich also in vielerlei Hinsicht gelohnt zu haben. "Ja, es ist zu beachtlichen Verzögerungen bei der Logistik und Erstellung der Kandidatenlisten gekommen", räumt er ein, "aber wir stehen vor fairen, freien und transparenten Wahlen, wir haben jetzt alle Probleme im voraus in unsere Kalkulationen einbezogen und Lösungen erarbeitet." Für Latortue stellen jetzt die Kandidaten das größte Problem dar. Unter den 35 Anwärtern auf das höchste Amt im Staate befinden sich zahlreiche Politiker der alten Garde, die nicht gerade unschuldig an den Wirren der Vergangenheit gewesen sind, auch Rebellenführer Guy Philippe, der zum gewaltsamen Sturz des letzten Präsidenten beigetragen hat, prangt auf den Wahllisten, sowie mit Dumarsais Simeus ein texanischer Ölmillionär haitianischer Herkunft, der sich seine Zulassung mit etwas zwielichtigen Mitteln erworben hatte. Er ist nämlich ein alter Freund und Sponsor des US-Präsidenten George W. Bush. In dem Kuriositätenkabinett hat sich selbst ein Voodoo-Priester angekündigt.
Von der Kandidatur ausgeschlossen wurden aber sämtliche Repräsentanten der Aristide-Partei Fanmi Lavalas, so beispielsweise Ex-Premierminister Yves Neptune und Pater Gérard Jean-Juste. Neptune sitzt seit Monaten ohne Verfahren in Haft, weil er in ein Massaker verstrickt sein soll. Jean-Juste, der mittlerweile vom Kirchenamt suspendiert ist und sich ebenfalls in Haft befindet, darf nicht antreten, weil er sich demnächst über die Rechtfertigung eines Mordes an einem Journalisten äußern soll. Obwohl die Fanmi Lavalas noch immer auf fanatische Anhängerschaft zählen können, sind sie ausgeschlossen. Zivilgesellschaft und Parteien sind nicht bereit, die einstigen Menschenrechtsverletzer und Mörder ihrer Freunde mit an einen Tisch zu lassen. Um die Kandidatur von Aristide, der immer noch Chef der Partei ist, zu verhindern, hat die Interimsregierung noch im November vor einem US-amerikanischen Gericht eine 74-seitige Zivilklage gegen den Ex-Präsidenten eingereicht.
Die Furcht vor Aristide ist noch immer groß. Nicht wenige munkeln, dass er die Wahlen wahrscheinlich gewinnen würde, dürfte er nur antreten. Schließlich war es nicht die große Masse der Armen, die ihn aus dem Land getrieben hat, sondern vor allem die Mittel- und Oberschicht. Internationale Gemeinschaft und Übergangsregierung versuchen ihre Ablehnung der Fanmi Lavalas durch besondere Aufmerksamkeit für die Durchführung der Wahlen in den Bidonvilles zu kompensieren. Ob sich das am Ende auszahlt, kann nur die Wahl selber zeigen. Ende des Jahres kannten nur wenige Haitianer einige der Kandidaten.
Die UN-Blauhelme haben das Land in Sicherheitszonen eingeteilt und die Wahlbezirke je nach Gefährlichkeit rot, orange oder grün eingezeichnet. Selbst in den roten Bezirken schöpfen sie jedoch neuen Mut. "Die Sicherheitslage hat sich deutlich verbessert", behauptet zumindest Juan Gabriel Valdés, der chilenische Chef der UN-Mission auf Haiti. "Die korrupte Polizei wurde durch den neuen Polizeichef gesäubert. Wir haben uns erfolgreich insbesondere dort eingesetzt, wo die Sicherheit der Menschen am gefährdetesten war, und ein Informationsnetzwerk über die Banden bringt uns sehr gut voran", sagt er.
Ob die bevorstehenden Wahlen zu sozialem Ausgleich, dauerhaftem Frieden und stabilen staatlichen Strukturen führen, bleibt abzuwarten. Denn Wahlen allein lösen noch nicht alle Probleme.
Jérôme Cholet arbeitet als freier Autor zu den
Themenschwerpunkten Lateinamerika und Afrika unter anderem für
die "Zeitschrift für Entwicklungspolitik", das "Deutschland
Magazin" und das Institut für Iberoamerika-Kunde.