Einleitung
Ende des 19. Jahrhunderts diente der Begriff des "Great Game" 1 als Metapher für die imperialistische Rivalität zwischen dem russischen Zarenreich und der britischen Krone rund um das Pamirgebirge. Seit einigen Jahren kursiert nun die Vokabel von einem "New Great Game". Mitte der neunziger Jahre beschrieb die Neuauflage dieses Begriffes allein den Wettstreit internationaler Energiekonsortien bei der Ausbeutung der kaspischen Erdöl- und Erdgasvorkommen. Heute ist dieser außerdem Sinnbild für das Konfliktknäuel im Zusammenhang mit der Neuverteilung strategischer Einflusssphären entlang Russlands exsowjetischer Südperipherie. 2 Die oft konfliktträchtig konnotierte Spielmetaphorik wird in der wissenschaftlichen und journalistischen Debatte vor allem zu der Beschreibung der russischen Zentralasienpolitik verwendet. Kritiker bemängeln, dass derartige Rückgriffe sachlich wenig begründet seien, weil durch die damit verbundene Überbewertung geopolitischer und etatistischer Wahrnehmungsmuster der Blick auf die kooperativen Seiten der russischen Zentralasienpolitik verstellt würde. 3 Letztlich werden weder ausschließlich konfliktive noch rein kooperative Perzeptionen der Analyse russischer Zentralasienpolitik gerecht. Vielmehr oszilliert das Engagement des Kreml in der Region zwischen Kooperation und Konfrontation. Welcher außenpolitische Habitus gerade akzentuiert wird, hängt von der herrschenden Ideologie und dem Weltbild der amtierenden Herrschaftseliten ab. In der Moskauer Haltung gegenüber Zentralasien lassen sich deshalb auch verschiedene Phasen unterscheiden.
Entkolonisierung des postsowjetischen Raums?
Bis 1993 vertrat die Gruppe der "Atlantiker" die offizielle außenpolitische Philosophie Russlands. 4 Sie schenkte der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) und damit auch Zentralasien wenig Beachtung. Vielmehr diente ausschließlich der Westen als Bezugspunkt für Russlands Identitätssuche sowie als Blaupause für die innen- und wirtschaftspolitische Modernisierung des Landes. Die herrschenden Reformkräfte erachteten das rückständige Zentralasien, aus dem man weder politische noch wirtschaftliche Impulse erwartete, eher als Last für den eigenen Transformationsprozess. 5 Einige Stimmen, darunter die des Schriftstellers Alexander Solschenizyn, forderten sogar die Abkoppelung Russlands von seiner "fremdkulturellen Kolonialperipherie" 6 . Im Kreml glaubte man, sich diese Gleichgültigkeit leisten zu können, da die zentralasiatischen Republiken als Neulinge in der Weltpolitik ohnehin auf Russland angewiesen sein würden.
Der national-kommunistische Putschversuch und das Erstarken restaurativ-neoimperialer Kräfte in der russischen Staatsduma 1993/94 sowie die Ernennung Jewgeni Primakows - einem Verfechter hegemonistischer Großmachtambitionen - zum russischen Außenminister beendeten Mitte der neunziger Jahre den Höhenflug der atlantischen Strömung. Die außenpolitische Denkschule des "Eurasismus" oder "liberalen Nationalismus", der seine eifrigsten Vertreter in den Reihen des Militärs, des Sicherheitsapparates und des militärisch-industriellen Komplexes hat, begann sich durchzusetzen. 7 Der postsowjetische Raum sollte fortan im Sinne einer adaptierten Monroe-Doktrin gegen externe Einflüsse (verbal) verteidigt und mit Hilfe verschiedener wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Kooperationsformate unter russischer Führung reintegriert werden. Die wirtschaftliche und militärische Schwäche Russlands sowie Empfindlichkeiten der zentralasiatischen Republiken gegenüber dem Paternalismus des ehemaligen "großen Bruders" erwiesen sich jedoch als kaum überbrückbare Hindernisse auf diesem Weg.
Der Eurasismus der Primakow-Ära erfuhr mit dem Aufstieg Wladimir Putins eine Relativierung. Putin erachtet die ökonomische Erneuerung Russlands als conditio sine qua non für den Wiederaufstieg des Landes zur Großmacht und ersetzte hegemonistische Schutzbekundungen durch einen an der Modernisierung Russlands orientierten Pragmatismus. Moskaus außenpolitische Maxime lautete fortan schlicht: "an der Schwelle zum 21. Jahrhundert ist Russlands Aufgabe Russland und nicht die Welt" 8 . In diesem Kontext ist auch Moskaus Plazet zu den zentralasiatischen "Aufmarschplänen" der Vereinigten Staaten nach dem 11. September 2001 zu sehen. 9 Wohlwissend, dass dieser Schritt von der außenpolitischen Elite Russlands sowie von der Mehrheit der eigenen Bevölkerung mit Skepsis aufgenommen wurde, 10 hoffte Putin auf eine "strategische Rente" für sein Entgegenkommen; beispielsweise auf Unterstützung für Russlands WTO-Beitritt, den Erlass alter Sowjetschulden oder die Aufhebung des diskriminierenden Jackson-Vanik-Amendments der USA von 1974 (ein Relikt des Kalten Krieges, das Handelsbeziehungen zu Russland mit der jüdischen Minderheit in Russland gewährten Rechten in Zusammenhang bringt). Die Vereinigten Staaten offerierten aber - sieht man von einer weitgehenden Verstummung der Kritik an Russlands Tschetschenienpolitik ab - keine nennenswerten "quid-pro-quos". Vielmehr setzte Washington eine Reihe diplomatischer Erniedrigungen in Gang: Hierzu zählen der einseitige Rückzug aus dem Anti Ballistic Missile (ABM)-Vertrag Ende 2001 genauso wie die Ausstrahlung von Hörfunksendungen in tschetschenischer Sprache durch "Radio Liberty" im Sommer 2002. Kurz darauf drangen die Vereinigten Staaten in einen weiteren "russischen Hinterhof" ein und entsendeten Militärberater und Elitetruppen nach Georgien. Nahezu unüberbrückbar wurde die Kluft zwischen Russlands Hoffnung auf eine ausgewogene Partnerschaft und Washingtons interessengeleitetem Unilateralismus mit dem US-Einmarsch im Irak. Die Diplomatie der Bush-Administration hat der außenpolitischen Elite Russlands eindrucksvoll vermittelt, dass eine Kooperation auf gleicher Augenhöhe bis auf Weiteres ein Wunschtraum bleiben wird. 11 Diese Erkenntnis mündet seit Anfang des Jahres 2003 in einer teilweisen Revision des Primats der ökonomischen Modernisierung zugunsten eines zunehmend realistischen Außenpolitikverständnisses. Flankiert wird diese Neujustierung durch die Militarisierung der Schaltstellen russischer Außenpolitik. Vor allem in der russischen Präsidialadministration wächst der Einfluss der sogenannten "Silowiki" 12, allesamt Vertreter des staatlichen Gewaltmonopols. 13 Der Handlungsspielraum liberaler Kräfte wird dadurch zusätzlich eingeengt und stimuliert die Formulierung der Kreml-Politik im Kontext (geo-)strategischer Überlegungen. 14 Für Zentralasien ist diese Entwicklung besonders virulent, prallen hier doch russische Schutzmachtinteressen und amerikanische Geostrategie aufeinander wie in keiner anderen exsowjetischen Region. Moskaus nach wie vor eingeschränkte Fähigkeit zur militärischen Machtprojektion wird dabei durch zwei Einflusskanäle kompensiert. Zum einen kraft einer "Butter statt Kanonen"-Politik, die Russlands konsolidierte Wirtschaftskraft für den eigenen Wiederaufstieg zur Großmacht instrumentalisiert. Zum anderen durch die Annäherung der innenpolitischen Ordnungsvorstellungen des Kreml an die der autokratischen Patriarchen Zentralasiens, greifbar in dem zunehmend geringen Stellenwert von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten innerhalb des Putinschen Systems der "gelenkten Demokratie".
Einflusskanal "Bizness"
Im Gegensatz zu den neunziger Jahren gilt Russland als wirtschaftlich gestärkt. Das Land ist nicht mehr auf westliche Finanzhilfen angewiesen, der Außenhandel boomt, die anhaltend hohen Ölpreise bescheren seit Jahren beträchtliche Haushaltsüberschüsse. 15 Russlands Einfluss auf die zentralasiatischen Volkswirtschaften ist entsprechend gewachsen. Dies gilt nicht allein mit Blick auf den zentralasiatischen Außenhandel, der seit jeher auf Russland fixiert war. Es ist vor allem Russlands Bedeutung als Auffangbecken für das überschüssige Arbeitskräftepotenzial der Region, die sich immer mehr als wirksamer Einflusshebel der Moskauer Zentralasienpolitik erweist. Dies gilt vor allem mit Blick auf Kirgistan und Tadschikistan, den Armenhäusern der Region mit Arbeitslosenraten von stellenweise 70 Prozent. Schätzungen gehen davon aus, dass rund zehn Prozent der erwerbsfähigen tadschikischen Bevölkerung in Russland arbeitet, wo das Lohnniveau etwa fünfmal so hoch ist. Die gesamtwirtschaftliche Bedeutung der Arbeitsmigration nach Russland ist enorm. Die Geldsendungen der tadschikischen Gastarbeiter Richtung Heimat belaufen sich auf etwa 1,2 Mrd. US-Dollar jährlich. 16 Dies übersteigt bei Weitem die Staatseinnahmen der tadschikischen Regierung. Wiederholt hat Moskau mit der Verschärfung der Visa-Bestimmungen gedroht, um an anderer Stelle - etwa bei der Stationierung russischer Streitkräfte - Entgegenkommen zu erpressen.
Russland nimmt überdies wachsenden Einfluss auf den für die künftige ökonomische Entwicklung Zentralasiens wichtigen Energiesektor. Zwar spielt Moskau aufgrund der Tatsache, dass nahezu alle Erdöl- und Erdgaspipelines aus Zentralasien Richtung Weltmarkt über russisches Territorium führen, seit jeher eine wichtige Rolle bei der Nutzbarmachung der dortigen Energievorkommen. In den letzen Jahren gelang es aber, diese Position durch langfristige Energie-Lieferverträge mit den zentralasiatischen Patriarchen weiter zu festigen. 17 Dies gilt insbesondere für einen 2003 mit dem turkmenischen Präsidenten Nijasow ausgehandelten "Jahrhundertvertrag". Darin hat sich Turkmenistan, das immerhin über die weltweit viertgrößten Gasvorkommen verfügt, für die nächsten 25 Jahre verpflichtet, den Großteil seines Erdgases an die russische Gasexport, ein Tochterunternehmen des Staatsmonopolisten Gazprom, zu verkaufen. 18 Um die zentralasiatischen Patriarchen zur Unterzeichnung derartiger Abkommen zu bewegen, ist Moskau zu weitreichenden Zugeständnissen bereit. Im Falle des turkmenischen Gasdeals beispielsweise musste die Gazprom auf Druck des Kreml fast doppelt so viel zahlen wie ursprünglich geplant. 19 Ein ähnliches Abkommen verhandelt Moskau derzeit mit Kasachstan: Russland strebt eine Lieferbindung für kasachisches Erdgas im Umfang von jährlich 15 Mrd. Kubikmeter mit einer Laufzeit von 20 Jahren an. Dadurch kämen mehr als 80 Prozent der aktuellen kasachischen Erdgasproduktion unter russische Verfügungsgewalt. 20 Für das kasachische Erdöl bestehen überdies langfristige Transitvereinbarungen über die russischen Energieknotenpunkte Noworossisk und Samara Richtung Europa, dem Hauptabnehmer zentralasiatischer Energieträger.
Die Motivation des Kreml, die sich hinter dem Abschluss derartiger Energiekooperationen verbirgt, ist nicht eindeutig. Einerseits spielen sicher Probleme der russische Energiewirtschaft bei der Erfüllung ihrer Exportverpflichtungen eine Rolle. Dies gilt insbesondere mit Blick auf die im Oktober 2000 unterzeichnete europäisch-russische Energiepartnerschaft, deren Umsetzung ohne Erdgaszukäufe aus Kasachstan und Turkmenistan gefährdet wäre. 21 Andererseits hat der Kreml in der Vergangenheit wiederholt bewiesen, dass er seine starke Stellung auf dem Energiemarkt der GUS auch als effektives Instrument seiner Außen- und Sicherheitspolitik einzusetzen weiß. 22 So sind die zentralasiatischen Herrschaftseliten stets angehalten, Moskaus entgegenkommende Energiekontrakte durch den Abschluss (sicherheits-)politischer Kooperationsvereinbarungen zu goutieren. Im Juni 2004 beispielsweise unterzeichneten die russische LUKoil und Uzbekneftegaz ein Abkommen zur gemeinschaftlichen Ausbeutung südusbekischer Erdgasfelder. Gleichzeitig vereinbarten Moskau und Taschkent ein bilaterales Sicherheitsabkommen, das russische Modernisierungs- und Ausbildungshilfen für die usbekischen Streitkräfte sowie die Intensivierung der militärischen Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten umfasst. 23 Aber auch gegenüber energiearmen Staaten wie Tadschikistan und Kirgistan weiß Russland sein "Energieimperium" einzusetzen. Just in dem Moment, als die tadschikische Führung Mitte 2004 den Abzug einer im Land stationierten russischen Gebirgsdivision verfügen wollte, unterbreitete Moskau dem Rachmonow-Regime ein lukratives Angebot, das die kostengünstige Modernisierung der hydroelektrischen Infrastruktur Tadschikistans durch den russischen Strommonopolisten Unified Energy Systems (UES) sowie den Erlass eines Großteils der tadschikischen Außenschulden im Austausch für den Verbleib der russischen Truppen vorsah. 24
Militanter Islamismus und Menschenrechte
Als weiterer Transmissionskanal russischer Zentralasienpolitik gilt die stete Thematisierung der Gefahr islamistischer Zersetzung postsowjetischer Gesellschaften und Staaten. Dies stößt bei den zentralasiatischen Regierungen, die in der islamistischen Oppositionsbildung mit ihrer Forderung nach der(Wieder-)Errichtung des Kalifats eine derHauptherausforderungen für ihre nur schwach legitimierte Herrschaft sehen, auf offene Ohren. 25 Wiederholt hat Russland seine islamische Krisenperipherie in Tschetschenien und Dagestan als zentrales Segment eines globalen, aber vor allem eurasischen Terrorbogens dargestellt und damit die Grundlage einer gemeinsamen Bedrohungsperzeption gelegt. Daran anknüpfend, propagierte Moskau Ende der neunziger Jahre gegenüber allen fünf zentralasiatischen Republiken eine Reihe multilateraler Initiativen und bilateraler Sicherheitsgarantien gegen den islamistischen Terrorismus. Derartige Bemühungen mündeten aber alsbald in einer "Diskrepanz zwischen erklärten Zielen, lauter Rhetorik und dem tatsächlich Machbaren" 26 . Dies gilt insbesondere für die Jahre 1999/2000, als die Taliban-nahe "Islamische Bewegung Usbekistans" (IBU) wochenlange Guerillafeldzüge in Kirgistan und Usbekistan unternahm, Moskaus ressourcenaufreibender Tschetschenien-Konflikt ein militärisches Eingreifen aber nicht zuließ. Vollmundige Ankündungen, wie etwa mit gezielten Vergeltungsaktionen Taliban-Lager zu vernichten, wurden nie in die Tat umgesetzt. 27
Nach der Stationierung westlicher Truppen in Usbekistan und Kirgistan - als Folge der Ereignisse des 11. September - musste Russland die sicherheitspolitische Initiative in der Region an die USA abtreten: Der Hoffnung der zentralasiatischen Regime auf neue, effizientere Sicherheitspartnerschaften gegen militante Islamisten hatte Moskau nichts entgegenzusetzen. 28 Zunehmende Differenzen in Demokratie- und Menschenrechtsfragen entzauberten aber alsbald die Beziehungen Zentralasiens zum Westen. Vor allem das Karimow-Regime in Usbekistan, das sich zwischenzeitlich zum regionalen Hauptverbündeten Washingtons entwickelte, nutzte das vermeintliche Damoklesschwert des islamischen Fundamentalismus als willkommene Gelegenheit zur Rechtfertigung seines diktatorischen Regierungsstils. 29 Als Reaktion auf diese Entwicklung hielt Washington auf Druck des US-Kongresses bereits im Sommer 2004 Militär- und Wirtschaftshilfen in Höhe von 18 Mio. US-Dollar zurück. 30 Das unnachgiebige Drängen der USA auf eine internationale Untersuchung des blutigen Massakers in Andischan im Frühjahr 2005 beendete die amerikanisch-usbekische Liaison unwiderruflich. Die Forderung Taschkents nach einem Abzug der im usbekischen Khanabad stationierten US-Truppen verschiebt das außenpolitische Koordinatensystem der bevölkerungsreichsten und militärisch stärksten zentralasiatischen Republik wieder Richtung Russland. Sichtbares Zeichen hierfür ist ein im November 2005 von Putin und Karimow unterzeichneter militärischer Beistandspakt, mit dem Russland faktisch das Patronat über das usbekische Regime übernommen hat. Moskau hatte zuvor die Handlungsweise der usbekischen Sicherheitskräfte als notwendigen Kampf gegen den militanten Islamismus gerechtfertigt. In einem Interview äußerte sich der russische Außenminister Lawrow mit den Worten: "an armed grouping that included militants from fundamentalist organisations and Talibs, among others, had long been planning an invasion of Uzbekistan's territory" 31 . Mit der Bereitschaft, unterschiedslos jede Art von Oppositionsbildung mit dem Terroristen-Etikett abzustempeln und menschenrechtsverachtende Militäraktionen gegen Zivilisten zu tolerieren, ist Russland der ideale Partner für die von Umsturzängsten geplagten Despoten Zentralasiens.
Multilaterale Sicherheitskooperationen
Der russische Verteidigungsminister Iwanow stellte Anfang 2005 vor dem Council on Foreign Relations in New York unmissverständlich klar, dass russische Interessen in der GUS für Moskau strategische Priorität besitzen und Russland deshalb sehr scharf auf Revolutionsexport innerhalb des postsowjetischen Raums reagieren wird. 32 Derartige Äußerungen werden in Zentralasien mit Wohlwollen vernommen, vor allem weil die politischen Eliten in der aggressiven Demokratisierungsagenda der Bush-Administration eine wesentliche Ursache für die Entmachtung autoritärer GUS-Regime sehen. Von dieser Wahrnehmung profitieren nicht nur Russlands bilaterale Beziehungen mit den zentralasiatischen Staaten, sondern auch um Moskau zentrierte regionale Sicherheitsformate wie die "Organisation des Kollektiven Sicherheitsvertrages" (OKS), eine Weiterentwicklung des erodierten GUS-Sicherheitspaktes von 1992, sowie das Sicherheitsformat der "Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit" (SOZ). Letztere bietet den aktuell deutlichsten Beweis für diese These. Die von Russland und China dominierte Shanghai-Gruppe, der mit Ausnahme Turkmenistans alle zentralasiatischen Republiken angehören, hat sich seit ihrer Gründung 1996 wiederholt US-kritischer Rhetorik hingegeben. Divergierende strategische Loyalitäten unter den SOZ-Mitgliedern setzten den Vereinnahmungsversuchen aus Moskau und Peking bislang aber enge Grenzen. Dies trifft vor allem auf die traditionell schwierigen usbekisch-russischen Beziehungen zu. Lange Zeit verweigerte sich das Karimow-Regime allzu engen Bindungen an Russland und orientierte sich eher an von Moskau abgewandten Kooperationsformaten wie dem Konsultationsforum GUUAM 33 oder dem Partnership for Peace-Programm der NATO. Selbst das Russland wegen seiner umfangreichen slawischen Minderheit traditionell freundlich gesonnene Kasachstan nannte betont "multivektoral" als Hauptattribut seiner Außenpolitik.
Im Juli 2005 aber überraschte die SOZ mit der Forderung nach der Beendigung der "zeitweiligen Nutzung" militärischer Infrastruktur durch die Vereinigten Staaten und die NATO in der Region, da die "aktive Phase des antiterroristischen Kampfes in Afghanistan abgeschlossen" sei. 34 Damit hat diezentralasiatische "Nach-September-Welt" den Westen, allen voran die USA, zum ersten Mal geschlossen mit einem Gefühl des "Unerwünschtseins" konfrontiert. Die Rolle des ins Lager der "revolutionären Westler" gewechselten Kirgistans bei der Formulierung dieser Aufforderung bleibt unklar. Wahrscheinlich ist, dass das wirtschaftlich und militärisch schwache Land dem Druck der übrigen SOZ-Mitglieder nicht standzuhalten vermochte. Im Übrigen wurde der kirgisische Machtwechsel - anders als die vorausgegangenen Ereignisse in Georgien und der Ukraine - in russischen Kommentaren kaum unter geopolitischen Aspekten bewertet. Der Direktor des Moskauer GUS-Instituts, Konstatin Zatulin, stellte lapidar fest: "Hier gibt es keine anti-russische Verschwörung." 35
Strategische Rivalitäten zwischen Moskau und Peking, 36 das seinen Einfluss in Zentralasien zum Missfallen Russlands in den letzen Jahren sukzessive ausgeweitet hat, 37 lassen die Shanghai-Gruppe aber hinter die OKS als zentralem Vehikel russischer Reintegrationsbemühungen zurücktreten. Seit geraumer Zeit versucht Moskau, der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit der OKS-Mitglieder Russland, Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Armenien und Weißrussland mehr Substanz zu verleihen. Die bereits erwähnte Selbstherrlichkeit des Kreml gegenüber den einstigen Bruderrepubliken führte aber auch hier zu unterschiedlich starken Abwehrhaltungen. Die Attraktivität einer Mitgliedschaft im GUS-Sicherheitspakt bestand für die zentralasiatischen Staaten letztlich vor allem in dem Privileg, russische Rüstungsgüter zu den gleichen Konditionen beziehen zu können wie das russische Militär. 38 Die Bereitschaft zu militärischer Reintegration war hingegen eher gering. Doch auch hier konnte der Kreml unlängst wichtige Fortschritte vorweisen. So haben Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan nicht nur der Errichtung eines gemeinsamen Luftverteidigungssystems im Rahmen der OKS zugestimmt. Sie unterstützen darüber hinaus die Bildung einer "Schnellen Eingreifgruppe" für Zentralasien, die sich der Eindämmung nichttraditioneller Sicherheitsrisiken wie Terrorismus und Drogenhandel widmen soll. 39
Die Stärkung des russischen Einflusses auf die zentralasiatischen Republiken lässt für das weitere Schicksal der Region wenig Gutes hoffen. Dies gilt zum einen mit Blick auf die bestehenden Herausforderungen der Systemtransformation. Es ist wenig wahrscheinlich, dass das Putinsche Russland bei den lokalen Herrschaftseliten für mehr Demokratie und Menschenrechtsschutz oder die Liberalisierung der größtenteils im Niemandsland zwischen Plan- und Marktwirtschaft stecken gebliebenen Volkswirtschaften werben wird. Aber gerade dies wäre für die Festigung zentralasiatischer Staatlichkeit essentiell. Zum anderen standen die politischen Entscheidungsträger im Kreml seit jeher vor der Frage, ob Stabilität oder nicht vielleicht doch Instabilität in Zentralasien für die eigenen Interessen vorteilhafter ist. Letztere konserviert schließlich kostengünstig alte Abhängigkeiten. Bereits in der Vergangenheit soll Russland hierzu erfolgreich in die Rolle des Konfliktmanipulators geschlüpft sein; so auch im Herbst 2002, als Moskau im Verdacht stand, bürgerkriegsähnliche Unruhen im südlichen Kirgistan zu schüren. Zuvor hatte sich Ex-Präsident Akajew gegen die Errichtung einer unter dem Banner der OKS stehenden russischen Luftwaffenbasis im kirgisischen Kant ausgesprochen. 40
1 Rudyard Kipling
griff den ursprünglich um 1830 entstandenen Begriff des "Great
Game" in seinem Roman "Kim" (1901) auf, in dem er den Kampf um
Macht und Einfluss beider Imperien aus Sicht eines britischen
Offiziers in der Region beschrieb. Diese an realen politischen
Gegebenheiten orientierte literaturhistorische Grundlegung
popularisierte den Ausdruck.
2 Für eine Analyse des "Great
Game"-Begriffs in seiner historischen und heutigen, teilweise
irreführenden Verwendung vgl. Matthew Edwards, The New Great
Game and the New Great Gamers: Disciples of Kipling and Mackinder,
in: Central Asian Survey, 22 (2003) 1, S. 83 - 102.
3 Vgl. Anna Kreikemeyer, Konflikt und
Kooperation in der Kaspischen Region: Russische Interessenlagen,
in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), (1998) 43 - 44, S.
13ff.
4 Vgl. James Richter, Russian Foreign
Policy and the Politics of National Identity, in: Celeste A.
Wallander (Hrsg.), The Sources of Russian Foreign Policy After the
Cold War, Boulder 1996, S. 77 - 79.
5 Vgl. Wolfgang Wilhelmi, Die Politik
der Rußländischen Föderation gegenüber dem
"Nahen Ausland". Unter besonderer Berücksichtigung von Rolle
und Einfluß des Militärs, Baden-Baden 2002, S. 48.
6 Vgl. Uwe Halbach, Der "nicht mehr
postsowjetische" Raum? Russland in der Wahrnehmung kaukasischer und
zentralasiatischer Staaten vor und nach dem 11. September,
SWP-Studie, Juli 2002, Berlin, S. 17.
7 Vgl. Alexander Dugin, Grundlagen der
Geopolitik, Moskau 1997; Charles Clover, Dreams of the Eurasian
Heartland. The Reemergence of Geopolitics, in: Foreign Affairs, 78
(1999) 2, S. 9 - 13.
8 Vgl. Dmitrji Trenin, Russland und die
neue Weltordnung. Eine Moskauer Sicht, in: Internationale Politik,
57 (2002) 10, S. 13.
9 Insgeheim jedoch hatte Putin bei
seinen zentralasiatischen Amtskollegen erfolglos für ein
Stationierungsverbot geworben. Vgl. Peter Rutland, Caspian
Security: Russia's Response to U.S. Regional Influence, NBR
Analysis, November 2003, S. 36.
10 Vgl. John O'Loughlin u.a., A Risky
Westward Turn? Putin's 9 - 11 Script and Ordinary Russians, in:
Europe-Asia Studies, 56 (2004) 1, S. 3 - 34.
11 Vgl. Alexander Rahr, Der kalte
Frieden. Putins Russland und der Westen, in: Internationale
Politik, 59 (2004) 3, S. 2.
12 Abgeleitet von "sila" (Macht,
Kraft). Zu den Silowiki zählen vor allem Putins Kanzleileiter
Igor Setschin, weiter der für Kaderpolitik zuständige
Stellvertretende Leiter der Administration, Viktor Iwanow, sowie
der Leiter des Inlandsgeheimdienstes, Nikolaj Patruschew. Vgl.
Margareta Mommsen, Einflussgruppen in der russischen Exekutive, in:
Russlandanalysen, (2005) 69, Forschungsstelle Osteuropa an der
Universität Bremen, S. 2 f.
13 Vgl. Roland Götz, Putins
komfortable Hausmacht, in: Blätter für deutsche und
internationale Politik, (2004) 3, S. 340.
14 Vgl. Roy Allison, Strategic
Reassertion in Russia's Central Asia Policy, in: International
Affairs, 80 (2004) 2, S. 277 - 293.
15 Vgl. International Monetary Fund,
Russian Federation: Statistical Appendix, IMF Country Report No.
04/315 (2004).
16 Vgl. Fiona Hill, Energy Empire: Oil,
Gas and Russia's Revival, New York 2004, S. 23.
17 Vgl. Marika Karayianni, Russia's
Foreign Policy For Central Asia Passes Through Energy Agreements,
in: Central Asia and the Caucasus, 28 (2003) 4, S. 90 - 96.
18 Vgl. Ariel Cohen, The
Putin-Turkmenbashi Deal of the Century: Towards a Eurasian
Gas-OPEC?, in: Central Asia Caucasus Analyst vom 7. 5. 2003,
http://www.cacianalyst.org/view_ article.php?articleid=1384, (5. 3.
2004).
19 Vgl. Deutsche Welle, Russland und
Turkmenistan vereinbaren Zusammenarbeit im Gassektor bis 2028,
Russland & GUS Monitor vom 10. 4. 2003,
http://www.dw-world.de/german/0,3367,2989_A_829812_1 _A,00.html (1.
8. 2005).
20 Vgl. Vladimir Saprykin, Gazprom of
Russia in the Central Asian Countries, in: Central Asia and the
Caucasus, 29 (2004) 5, S. 88. Pravda Online, Russia to Consolidate
Natural Gas Market, 14. 7. 2004,
http://english.pravda.ru/main/18/89/356/13380_gas.html (15. 7.
2005).
21 Vgl. Alexander Warkotsch,
Ressourcenkonflikt im Kaukasus. Europa und das kaspische Öl,
in: Blätter für deutsche und internationale Politik,
(2004) 1, S. 71ff.
22 Vgl. A. Rahr, (Anm. 11), S. 6.
23 Vgl. Sergei Blagov, Investment
Strengthens Russian Ties to Uzbekistan, in: Eurasianet Business
& Economics vom 4. 8. 2004, http://www.eurasianet.org/
resource/uzbekistan/articles/index.shtml (12.12. 2004). - Roger
McDermott, Russia Signs Strategic Partnership with Uzbekistan, in:
Eurasia Daily Monitor, 1 (2004) 37,
http://www.jamestown.org/edm/article.php?volume_
id=401&issue_id = 2996&article_id = 2368146 (26. 6.
2004).
24 Vgl. Kambiz Arman, Russia and
Tajikistan: Friends Again, in: Eurasia Insight vom 28. 10. 2004,
http://eurasianet.org/departments/insight/articles/eav102804_
pr.shtml (12. 12. 2004).
25 Vgl. Alexander Warkotsch, Die
zentralasiatischen Regime und der Islam, in: Osteuropa, 54 (2004)
11, S. 8 ff.
26 Vgl. Birgit Bauer/Beate Eschment,
Russlands Politik in Zentralasien, in: Osteuropa, 51 (2001) 4/5, S.
496.
27 Vgl. Pavel Baev, Assessing Russia's
Cards: Three Pretty Games in Central Asia, in: Cambridge Review of
International Affairs, 17 (2004) 2, S. 273.
28 Vgl. Alex Vatanka/Roger
McDermott/Pavel Baev, Split Loyalties, in: Jane's Defence Weekly
vom 16. 10. 2002, S. 82 - 90.
29 Vgl. Fiona Hill, Central Asia and
the Caucasus. The Impact of the War on Terrorism, in: Freedom House
(Hrsg.), Nations in Transit, New York 2003, S 39 - 50.
30 Vgl. Message to Tashkent, in:
Washington Post vom 16. 7. 2004, S. A20.
31 Zit. in: International Crisis Group,
The Andijon Uprising, Asia Briefing No. 38/2005, S. 7.
32 Vgl. Uwe Halbach/Franz Eder,
Regimewechsel in Kirgistan und Umsturzängste im GUS-Raum, SWP
Aktuell 15, April 2005, Berlin, S. 8.
33 Aus den Anfangsbuchstaben der
Mitgliedstaaten Georgien, Ukraine, Usbekistan, Aserbaidschan und
Moldawien zusammengesetzte Bezeichnung.
34 Vgl. Schanghai Organisation fordert
Termin für Truppenabzug aus Zentralasien, in: FAZ vom 6. 7.
2005, S. 6.
35 Vgl. U. Halbach/F. Eder (Anm. 32),
S. 8.
36 Vgl. Bobo Lo, The Long Sunset of
Strategic Partnership: Russia's Evolving China Policy, in:
International Affairs, 80 (2004) 2, S. 295 - 309.
37 Vgl. Die Grenzen der Moskauer
Konzessionsbereitschaft, in: Nezavisimaya gazeta vom 12. 5. 2004,
S. 3.
38 Vgl. R. Allison, (Anm. 14), S.
286.
39 Vgl. Sergei Blagov, The Geopolitical
Balance in Central Asia Tilts Towards Russia, in: Eurasia Insight
vom 6. 7. 2005,
http://eurasianet.org/departments/insight/articles/eav070605a_pr.shtml
(1. 8. 2005).
40 Vgl. Marina Pikulina, Russia in
Central Asia: Third Invasion, Briefing Paper 38/2003, Conflict
Studies Research Centre, London, S. 8.