Es gibt ein altes Sprichwort, das besagt: "Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf." Es ist eine schöne Metapher für die vielen kleinen und großen Anstrengungen, die nötig sind, um aus einem Kind einen erwachsenen, eigenständigen Menschen zu machen. Allerdings geht es danach dem "deutschen Dorf" ziemlich schlecht. PISA, Perspektivlosigkeit und Kinderarmut bestimmen die Diskussion, und ein Wort haftet an Politikern und Experten wie zäher Kaugummi: Bildungsmisere.
Die Sachverständigenkommission bringt die Situation im 12. Kinder- und Jugendbericht auf den Punkt: "Deutschland hat mit Blick auf sein öffentliches Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsangebot einen unübersehbaren Nachholbedarf", heißt es dort, und weiter: "Zu einseitig" habe die Bundesrepublik lange Zeit "ausschließlich auf Familie und Schule als (...) Stützpfeiler von Kindheit und Jugend gesetzt". Die Experten unter der Leitung von Thomas Rauschenbach, dem Direktor des Deutschen Jugendinstituts, empfehlen daher einen grundlegenden Paradigmenwechsel. Um die wichtigsten Aufgaben, die Betreuung, Bildung und Erziehung von Kindern, sollten sich in Zukunft die beteiligten Institutionen gemeinsam kümmern, der Kindergarten ebenso wie Schulen, Jugendverbände und Familien, aber auch Vereine oder Sozialeinrichtungen. Erziehung sollte dann nicht mehr allein Sache der Eltern sein, sondern auch die Schule etwas angehen, Bildung nicht erst mit dem Eintritt ins Schulalter eine Rolle spielen, sondern bereits nach der Geburt. "Es ist eine wichtige Erkenntnis des Berichts", sagt Kerstin Griese (SPD), Vorsitzende des Familienausschusses des Deutschen Bundestages, "dass alle drei Säulen der kindlichen Entwicklung unbedingt zusammengehören".
Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist nicht zuletzt ein tiefgreifender gesellschaftlicher Wandel. Wo beide Eltern berufstätig sind, kann die Familie die Erziehung ihrer Kinder nicht mehr allein gewährleisten. Das Bild der Mutter, die für die Kinder sorge und des Vaters, der das Geld verdiene, sei "unrealistisch" geworden, meint Kirsten Bruhns vom Deutschen Jugendinstitut. "Das öffentliche System von Bildung, Betreuung und Erziehung ist jedoch im Zusammenhang mit diesem bestimmten Familienmodell entstanden. Heute muss es neu organisiert werden." Die Kommission schlägt daher vor, Ganztagsschulen auszubauen, kostenlose Kindergartenplätze und einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz auch für unter Zweijährige zu schaffen sowie die Kinder früher einzuschulen. Geschätzte Kosten dieser Rundumsanierung: 2,7 Milliarden Euro. Bruhns: "Ganztagsschulen bieten mehr Zeit für Kinder und damit die Chance einer intensiven individuellen Förderung. Außerdem beginnen Lernprozesse bereits mit der Geburt. Sie zu unterstützen, erfordert in jedem Lebensalter ein spezifisches Vorgehen."
Diese Ansicht teilt auch Kerstin Griese. Sie findet es "besonders interessant", dass der Bericht die Ganztagsschule so ausdrücklich unterstützt, "nicht nur als Modell für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, sondern auch, um bessere Bildungsangebote zu schaffen." Nicht zuletzt habe sich schon die rot-grüne Bundesregierung für dieses Konzept eingesetzt - zum einen durch ein Investitionsprogramm für 10.000 neue Ganztagsschulen, zum anderen durch das Tagesbetreuungsausbaugesetz, mit dem bis 2010 rund 230.000 neue Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren entstehen sollen. Im schwarz-roten Koalitionsvertrag sei zudem festgelegt worden, dass der Bund für Kinder ab dem zweiten Lebensjahr einen Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz einführen werde, "falls der Ausbau der Betreuung durch die Kommunen bis 2008 nicht in ausreichendem Maße geschieht", so Griese. Teile des Maßnahmenpakets der Kommission sind also durchaus schon auf den Weg gebracht.
Dennoch wirft die geplante Kompaktversorgung der Kleinen auch Fragen auf: die nach der Qualifikation der Betreuer beispielsweise. Wenn künftig Lehrer auch Erzieher sein sollen und Erzieher auch ein bisschen Lehrer, und es nicht mehr reicht, dem Kind nur Deutsch und Mathe beizubringen; wenn es vielmehr individuell gefördert und gefordert werden soll, schon im Kleinkindalter, dann verwundert es kaum, wenn der eine oder andere schnell an die Grenzen seines Berufes stößt. Sind die derart beanspruchten Pädagogen dafür überhaupt ausgebildet? Bisher jedenfalls kann in Deutschland jeder Erzieher werden, der eine fünfjährige Ausbildung absolviert. Ein Hochschulstudium ist nicht nötig. Das möchte die Kommission des Kinder- und Jugendberichts gern ändern: Sie empfiehlt, das Leitungspersonal von Kindergärten künftig auf Hochschulniveau auszubilden. "Die Anforderungen an Erzieherinnen sind hochkomplex geworden", sagt Ekin Deligöz, kinder- und familienpolitische Sprecherin der Grünen im Deutschen Bundestag. "Sie sollen Kinder individuell bilden, sie an naturwissenschaftliche und musische Felder heranführen, ihnen zugleich soziale Kompetenzen vermitteln, frühzeitig kindliche Defizite erkennen, dafür Lösungen aufzeigen und noch vieles mehr." Das bestehende Ausbildungssystem reiche dafür kaum aus. Das meint auch die FDP-Familienexpertin Miriam Gruß: "Die Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern muss auf hohem Niveau konzeptionell und strukturell reformiert werden. Zudem erfordert eine hochwertige Bildung auch bestmöglich ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer."
Offenbar ist nach dem PISA-Debakel und den Dis- kussionen um den "Bildungsstandort Deutschland" eine Erkenntnis gewachsen: Die Erziehung von Kindern erfordert ganzheitliche Konzepte und ein wirksames Zusammenspiel von Schulen, Eltern und Kindergärten. "Es geht bei den Angeboten für Kinder nicht allein um Quantitäten", betont Kirsten Bruhns. "Der Ausbau dieser Angebote muss immer auch unter dem Gesichtspunkt einer hohen Qualität erfolgen."