Vieles war bekannt - aber häufig nur in groben Zügen. Mit Umbachs neuem Standardwerk werden viele offene Fragen beantwortet, weil der Autor ein synoptisches Quellenstudium betrieben und an zahlreichen westlichen und östlichen Forschungsplätzen gearbeitet hat.
Der Zerfall des Warschauer Paktes (WP) war ein Vorgang von einmaliger historischer Gravität. Das zweitmächtigste Militärbündnis der Menschheitsgeschichte, gegründet, ausgebaut und befehligt von einer Großmacht mit globalem Anspruch, ist sang- und klanglos untergegangen, ohne für seinen Dauergegenspieler, die NATO, je zu einer akuten Gefahr geworden zu sein. Das Bündnis wurde nur zweimal militärisch aktiv: 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei - jeweils gegen einen Bündnispartner. Zweimal, 1956 und 1981 gegen Polen, wäre es beinahe zu einer Intervention gekommen. Aber die Sowjets haben es in diesen Fällen nicht gewagt.
Welchen militärischen Nutzen hat eigentlich dieser Pakt für die sowjetische Führungsmacht gehabt, außer dass er der ständige bewaffnete Drohfinger für alle Satelliten gewesen ist? Wo es darauf ankam, wie in Ungarn 1956 und der CSSR 1968, mussten die sowjetischen Militärs allein handeln. Diese Frage ist übrigens eine der wenigen, die auch nach der Lektüre von Umbachs Werk noch immer nicht schlüssig beantwortet werden kann. Ferner bleibt auch nach der Lektüre der knapp 600 Textseiten die politische Frage weiter offen, wie wichtig das militärische Instrument im Vergleich mit jenen anderen Instrumenten war, die auch für den Zusammenhalt des Imperiums sorgten, also zur Ideologie, den Parteibeziehungen und den Geheimdiensten.
Umbach wirft in seiner eher knappen Einleitung acht forschungsleitende Fragen auf, auf die er auch recht präzise und überzeugende Antworten gibt. Es wird alles angesprochen, was die militärpolitische und politikwissenschaftliche Forschung schon seit Jahren thematisiert: Unter anderem politische Institutionali-sierung versus militärische Organisation vor allem in der UdSSR, Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Vormacht und Satelliten in beiden Richtungen, Kompetenzverteilung innerhalb des Paktes, wechselseitige Abhängigkeit von politischer Führung und Militäreliten, die Ressourcenfrage, Intra- und Inter-Allianz-Konflikte, Vergleiche mit der NATO, Wandel der sowjetischen Militärdokrin und ihre Wirkungen im Westen.
Die Arbeit ist in drei Hauptkapitel gegliedert, die sich den inner-sowjetischen Voraussetzungen für die WP-Gründung, der Aufbau- und Formierungsphase 1955-1985 und dann, am ausführlichsten, der Gorbatschow-Ära, also der Zerfallsperiode widmen.
Die Lektüre ist auch deshalb spannend, weil der Autor sicherheits- und militärspolitische Aspekte stets vor dem Hintergrund politischer Prozesse diskutiert, ein Vorzug, den manche Studien von Militärexperten in der Vergangenheit nicht immer hatten. Wer in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre Gelegenheit zu Gesprächen mit sowjetischen Fachleuten aus der nichtmilitärischen Kaderreserve hatte, konnte es schon hören: Mit dem Beginn des Transformationsprozesses unter Gorbatschow fand eine zunehmende "Demonopolisierung des militärischen Sachverstandes" zugunsten des fortschreitenden "Aufbaus von Netzwerken ziviler Militärexpertise" statt, was Gorbatschow die Option für eine kooperativere Sicherheitspolitik eröffnete. Hier zeigte sich der "Sickereinfluss" des "neuen Denkens" im Hinblick auf defensivere Militärstrategien und Abrüstung. Allerdings entstand hier ein neues Konfliktpotenzial, denn die politische Führung musste mit dem alten Militärestablishment zusammenarbeiten.
Man kann Umbach folgen, wenn man diese Entwicklung, den Lernprozess politischer Eliten in der UdSSR, als möglicherweise schwerwiegendste Folge der Entspannungspolitik für das östliche Bündnis erachtet. Andererseits, und das zu Recht, hält der Autor weder die Politik der Stärke Ronald Reagans noch die Entspannungspolitik insgesamt für ursächlich bei der Auslösung der bekannten Zerfallsprozesse in der Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten. Folgenreich, aber nicht ursächlich: Diese feine Differenzierung ist Umbach überzeugend gelungen.
Und noch in einer einstmals kontrovers diskutieren Frage macht der Autor einen glatten Punkt. Die sowjetische Militärdoktrin war und blieb, was Herbert
Wehner schon in den 80er-Jahren konstatiert hatte, dem Westen gegenüber im Kern defensiv. Sie musste jedoch, und das ist das große "Aber", auf die NATO offensiv wirken, weil die sowjetische Militärführung in allen Phasen am Ausbau einer überlegenen konventionellen und nuklearen Kriegsführungskapazität ihrer Streitkräfte festhielt und weil sie nicht an einen automatischen Übergang eines konventionellen Krieges in einen nuklearen Holocaust in Europa glaubten.
Hier zeigt sich auch ein Mangel der Studie. Die gewaltige Rolle von Bedrohungsperzeptionen in der Außen-, besonders Sicherheitspolitik wird von Umbach zwar nicht übersehen, bleibt aber merkwürdig unterbelichtet. Auf diese "threat perceptions" hatte schon vor fast 40 Jahren Joseph H. de Rivera in seiner richtungweisenden Studie über "The Psychological Dimension of Foreign Policy" hingewiesen. Bedrohungswahrnehmungen können das Entscheidungsgewicht von tatsächlichen Bedrohungen erlangen.
Umbachs Arbeit hat das, was sie auch zu einem Nachschlagewerk macht: einen ordentlichen Anhang, einschließlich eines passablen Personenregisters. Die systematisch-deskriptive Darstellung folgt scheinbar einem strukturalistischen Ansatz, der das Abgleiten in eine ereignisgeschichtliche Materialschlacht verhindert. Die Fachwissenschaft wird um diese Studie künftig nicht mehr herumkommen.
Frank Umbach
Das rote Bündnis.
Entwicklung und Zerfall des Warschauer Paktes 1955 - 1991.
Ch. Links Verlag, Berlin 2005; 702 S., 34,90 Euro