Manchmal gelingt es Verlagen, den wesentlichen Inhalt des Buches unter einem präzisen Titel zusammenzufassen. Hier ist es gelungen. Zwar hätten einige der insgesamt 22 Autoren, etwa der ehemalige DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière, die Aussage auf dem Einband lieber mit einem Fragezeichen versehen. Aber mehrheitlich ist die Auffassung, das erstrebte Ziel der inneren Einheit Deutschlands nach dem Mauerfall sei verfehlt worden. Die Angleichung der Lebensverhältnisse, der Wertvorstellungen und der Kultur, so der Befund, sei bis heute nicht erreicht.
Eineinhalb Jahrzehnte nach dem staatlichen Zusammenschluss seien sich Ost- und Westdeutsche noch immer fremd, meint der Europa-Abgeordnete der PDS, André Brie. "Während sich die Westdeutschen als Zahlmeister der deutschen Wiedervereinigung undankbar behandelt fühlen, sehen sich die Ostdeutschen im Kolonialstil erobert und entrechtet." Mag man diese Behauptung noch anfechten, so ist eine andere kaum bestreitbar. Nach wie vor hängt Ostdeutschland am westdeutschen Tropf. "Heute dürfte jedem klar sein", so Rainer Land und Andreas Willisch, "dass der selbst tragende Aufschwung in Ostdeutschland auch für die absehbare Zeit der nächsten zehn bis 15 Jahre nicht erwartet werden kann."
Warum die neuen Länder eine ökonomisch unterentwickelte und vom Transfer abhängige Region sind und wohl noch lange bleiben werden - darüber gehen die Meinungen der Experten auseinander. Anders als der Berliner Theologe Richard Schröder, der dafür plädiert, die ab 1990 getroffenen Entscheidungen fair und "unter Voraussetzung des damaligen Wissens und Nichtwissens" zu beurteilen, sieht das Gros der Autoren den entscheidenden Grund für die Kluft in eindeutigen Fehlentscheidungen und Versäumnissen bundesdeutscher Politik und Wirtschaft. So nennt Ulrich Busch, einst leitender Angestellter bei der DDR-Staatsbank, die frühe Einführung der D-Mark im Osten ein ökonomisches Desaster. In einer "Marktwirtschaft ohne Markt" hätten die Betriebe im Osten wirtschaftlich nicht überleben können. Einziger Gewinner der Währungsunion sei die westdeutsche Wirtschaft gewesen.
Andere Autoren wie der Wirtschaftshistoriker Jörg Roesler, ehemals Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften der DDR, machen die Treuhandpolitik für die verfehlte Angleichung verantwortlich. Statt der Sanierung der bis dahin volkseigenen Betriebe Vorrang einzuräumen, habe die Treuhandanstalt nach Vorgaben des Bundesfinanzministeriums eine "Feuerwehr-Privatisierung" betrieben und das ostdeutsche Produktivvermögen hastig und einseitig zu Gunsten westdeutscher Firmen und Investoren umverteilt, wobei drei Viertel aller Arbeitsplätze verloren gingen. Wieder andere wie der westdeutsche Wirtschaftswissenschaftler Thomas Betz halten das bei der Eigentumsfrage eingeführte Prinzip "Rückgabe vor Entschädigung" als den "Kardinalfehler" der deutschen Einigung.
Überzeugender als solche meist einseitigen Betrachtungsweisen ist die Argumentation einiger Autoren, nach denen die Vereinigung nicht gemeinsam gestaltet worden sei, sondern durch vollständige Übertragung eines selbst in die Krise geratenen Wirtschafts- und Sozialmodells. Rolf Reißig, in den 80er-Jahren einer der kritischsten Köpfe im SED-Apparat, hält es für einen schwer wiegenden Fehler, dass der Vereinigungsprozess nach Mustern und mit Instrumenten der Bundesrepublik organisiert worden sei, die bereits selbst erneuerungsbedürftig gewesen seien. Wer Anfang der 90er-Jahre dafür eintrat, den Umbruch im Osten als Chance für Veränderungen auch im Westen zu nutzen, sei in Bonn auf taube Ohren gestoßen.
Im Vorwort schreiben die Herausgeber, ihnen sei es nach 15 Jahren deutscher Einheit um eine "sachliche Zwischenbilanz" gegangen. Die Entwicklung in Deutschland seit 1990 wird in der ganzen Breite analysiert, von der Politik und der Wirtschaft, über Probleme des Arbeitsmarktes und der schrumpfenden Städte bis hin zum Wandel in der Kulturlandschaft und der wechselseitigen Wahrnehmung in den Medien. "Es muss endlich wieder Vertrauen in eine ostdeutsche Zukunft entstehen, denn nur so wird es auch eine erfolgreiche Zukunft Deutschlands geben", schreibt Klaus von Dohnanyi. "Es ist höchste Zeit für eine neue Politik." Das lässt sich allerdings leicht sagen, wenn man nur Berater und für die Umsetzung nicht verantwortlich ist.
Hannes Bahrmann, Christoph Links (Hrsg.)
Am Ziel vorbei. Die deutsche Einheit - Eine Zwischenbilanz.
Ch. Links Verlag, Berlin 2005; 358 S., 17,90 Euro