Eine Kampfschrift ist dieses Buch nicht. Aber sich politisch einmischen, die Öffentlichkeit wachrütteln will der Grundrechte-Report schon, der sich mit der Aushebelung demokratischer Freiheitsrechte in einer sich immer mehr ausformenden Überwachungsgesellschaft auseinandersetzt. Da können prominente Namen nicht schaden, unter den Autoren sind Ex-Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), der grüne Rechtspolitiker Volker Beck, der Kieler Landesdatenschutzbeauftragte Thilo Weichert oder Barbara Lochbihler, Generalsekretärin von amnesty international, zu finden. Und obendrein präsentierte jetzt mit Jutta Limbach die ehemalige Präsidentin des Verfassungsgerichts den Report 2006 zum zehnjährigen Jubiläum des seit 1997 erscheinenden "Gegenstücks zum Verfassungsschutzbericht" (Herausgeber Till Müller-Heidelberg). Die Grundrechte, warnt Limbach, seien "auch in einer langjährigen Demokratie stets gefährdet".
Die beiden aktuellen Hits konnten in dem von mehreren Bürgerrechtsgruppen publizierten Buch nicht mehr berücksichtigt werden: Die BND-Affäre rund um die Bespitzelung von Journalisten beleuchtet einen Angriff auf die Pressefreiheit, wohingegen das Zurechtstutzen der Rasterfahndung durch ein Karlsruher Urteil die Gegner des Überwachungsstaats freuen darf.
Der Report übt nicht nur Kritik. Gewürdigt werden etwa die Entscheidungen des Verfassungerichts, die sich gegen den Lauschangriff in Wohnungen und gegen das niedersächsische Gesetz zum präventiven Telefonabhören ohne handfesten Verdacht auf Straftaten richten. Aber die über 40 Beiträge nehmen natürlich in erster Linie die Tendenzen zu verstärkter Repression und Kontrolle ins Visier. Gänzlich neue Themen werden in dem Band nicht aufgeblättert. Aber die Gesamtschau der Problemfelder erhellt den zu beobachtenden schleichenden Prozess der ausufernden Überwachung und damit der Beschneidung des freien Alltags- und politischen Lebens der Bürger.
Leutheusser-Schnarrenberger, Lochbihler und andere Autoren befassen sich mit der Forderung, beim Anti-Terror-Kampf rechtsstaatliche Standards zu wahren. Das Buch will mit der Mär aufräumen, "Normalbürger" würden vom Staat nicht behelligt. Doch da sind die biometrischen Ausweispapiere, die Heiner Busch als "erkennungsdienstliche Behandlung von jedermann" attackiert. Und über die EU wurde die automatische Registrierung jedes Telefon-, Mail- und Internetskontakts durchgesetzt: "450 Millionen Europäer unter Generalverdacht" kommentiert Nils Leopold.
Als besonders bedenklich bezeichnet Limbach das in Weicherts Text sezierte "Scoring" von Verbrauchern: Über die statistische Ermittlung etwa von Einkünften, Konsumgewohnheiten, Adressen, Geschlecht, Alter, Beruf errechnen Unternehmen oder Banken einen Punktestand (Score) für einzelne Bürger, der dann über Kauf- und Kreditmöglichkeiten mit entscheidet. Wer in einer "schlechten" Gegend mit hoher Arbeitslosigkeit und vielen Privatinsolvenzen lebt, wird dann von Versandhäusern vielleicht nur gegen Vorkasse beliefert. Ein Kapitel unter dem sinnigen Titel "Liebe in Zeiten von Hartz IV", das die Kontrolle der Privatsphäre durch Arbeitsagenturen aufs Korn nimmt, beschreibt ein anderes Beispiel der vielfältigen Eingriffe ins Alltagsleben.
Eine Passage aus dem Karlsruher Urteil zur Rasterfahndung hätte gut als Fazit des Reports dienen können: Es gefährde die Unbefangenheit des Verhaltens, "wenn die Streubreite von Ermittlungsmaßnahmen dazu beiträgt, dass ... ein Gefühl des Überwachtwerdens entsteht".
Till Müller Heidelberg u.a. (Hrsg.)
Grundrechte-Report 2006. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. Main 2006; 248 Seiten, 9,95 Euro