Es sei halt keine Liebesheirat gewesen, so versuchten die Österreicher später ihre missliche Lage zu erklären. Doch alles Reden half nichts. Historiker und Kulturschaffende, etwa der große Grantler Thomas Bernhard, legten die Tondokumente aus der Hochzeitsnacht auf den Tisch. Es war der 12. März 1938 als Adolf Hitler auf dem Wiener Heldenplatz unter donnernden Heil-Rufen den "Anschluss" seines Heimatlandes an das Deutsche Reich verkündete. Im Schatten der Hofburg waren die Gefühlswallungen der Wiener Bevölkerung nicht zu überhören: Tu felix Austria juble!
Es sollte Österreichs letzte Ehe gewesen sein. Kaum dass der "Anschluss" verkündet und etwa 60.000 Österreicher ins KZ deportiert worden waren, wurde das Land umbenannt. Erst gaben die Nazis ihm den Namen "Ostmark", später sogar die lediglich adminis-trative Bezeichnung "Alpen und Donau-Reichsgaue". Kein Zweifel: Österreich war ein Opfer. Nach Ende der Schreckensherrschaft zumindest präsentierte sich das kleine Land wie eine entehrte Debütantin.
Die historische Wahrheit indes ist komplizierter. Bereits vor 1938 gab es in Österreich starke nationalsozialistische Strömungen. Über viele Dekaden hat man der Realität nicht ins Auge schauen wollen. Doch heuer hilft kein Leugnen mehr: Ein Großteil der Österreicher hat den "Anschluss" gewollt. Die Gräueltaten waren nicht nur das Werk der deutschen Besatzungsmacht; sie wurden auch aus den eigenen Reihen begangen. 537.632 Personen waren gegen Kriegsende in den Mitgliedskarteien von NSDAP und SS erfasst. Auch wenn man in der Zweiten Republik diese Zahl noch immer nicht gerne vernimmt, auf die ein oder andere Weise prägt sie die deutsch-österreichischen Beziehungen bis heute.
Im Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig beschäftigt sich nun eine Ausstellung mit dieser historisch belasteten Nachbarschaft. Unter der Schirmherrschaft der beiden Bundespräsidenten Heinz Fischer und Horst Köhler hat man gut 800 Objekte unter dem Titel "Verfremdete Nachbarn" zusammengetragen. Sie zeugen von den zahlreichen Berührungs- und Konfliktpunkten im Beziehungsgeflecht der beiden Staaten. Ihre gemeinsame Geschichte reicht weit zurück bis ins Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Harmonie und Freundschaft sind hier ebenso zu finden wie Querelen und offener Bruderkrieg. Zu kurz gegriffen wäre es sicherlich, die deutsch-österreichische Liaison lediglich auf sieben Jahre gemeinsame Erfahrung in Sachen Totalitarismus zusammenzustreichen. Und doch: Betrachtet man - wie dies auch die Leipziger Ausstellung tut - die Entwicklungen ab dem Jahr 1806, so scheint es zuweilen, als raste alles notgedrungen auf eine Katastrophe zu.
Seitdem Franz II. offiziell auf die deutsche Reichskrone verzichtet hatte, stand für beide Länder die Gestaltung von Zukunft ganz oben auf der Agenda. Fast das gesamte 19. Jahrhundert hindurch stritt man um verschiedene Modelle zur Nationalstaatsbildung: um groß- oder kleindeutsche Lösungen. Selbst als Bismarck 1866 mit dem preußischen Sieg über Österreich die Weichen für ein Deutsches Reich ohne den südlichen Anrainer gestellt hatte, bildeten Habsburger und Hohenzollern weiterhin die todessüchtigsten Allianzen. So kam es, wie es kommen musste. 1914 marschierte man Seite an Seite in den Untergang. In gemeinsamer deutscher Sprache träumte man von der "Utopie des Unglücks".
Auch nach der 1918 ausgerufenen Republik Deutsch-Österreich änderte sich daran nicht viel. Wie Weimar war die erste Republik in Österreich ein Staat wider Willen. Zwar hatten die Pariser Friedensverträge einen Anschluss an das Deutsche Reich verboten, zahlreiche Österreicher indes lehnten das neue politische Gebilde nebst demokratischer Verfassung vehement ab. Der Gesinnung nach waren sie "reichisch" - ein Attribut, das sie sich selbst gaben.
Vielleicht gibt es kaum eine historische Figur, die all diese deutsch-österreichischen Parallelen und Kreuzungen besser verkörpern würde, als jene, die bald zu ihrem gemeinsamen Schicksal werden sollte: Adolf Hitler. Die Leipziger Ausstellung jedenfalls räumt dem einstigen Postkartenmaler aus Braunau am Inn reichlich Platz ein - von seinen Wiener Jahren, in denen er begeistert immer stärker die antisemitische Stimmung aufsaugte, die ohnehin in Wien gerade en vogue war, bis zum Lebenswandel eines rechtsnationalen Bohemien im München der 20er-Jahre. 1914 wegen "schwächlichen Gesamtzustands" vom Wehrdienst in der Donaumonarchie befreit, meldete er sich wenig später als Kriegsfreiwilliger in seiner neuen Wahlheimat Bayern. Hier wie dort saugte er durch Bücher, Kameraden und Vorgesetzte besonders zwei Ideologien in sich auf, den Nationalismus und die Xenophobie.
Wer nun die missliche "Patenschaft" für Hitler hatte, darüber hat es später immer wieder Streit gegeben. Die Österreicher jedenfalls hätten diesen Schandfleck nur allzu gerne völlig an die Deutschen abgeschoben. Neben der eindeutigen Rolle, die Hitler ohnehin später in Deutschland spielte, gibt es aber auch formal einen guten Grund: Immerhin hat Hitler 1932 ganz offiziell die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten. An der Donau präferierte man weitere "Tauschgeschäfte". Lange hoffte man, den gebürtigen Bonner Ludwig van Beethoven zu einem Wiener machen zu können und so ins kulturelle Erbe einzugemeinden. Um die Ahnentafel jedenfalls gibt es Streit bis in die Gegenwart. So zeigt die Leipziger Ausstellung einen Wahlzettel für die ZDF-Sendung "Unsere Besten". Zur Wahl gestellt war unter anderem der Salzburger Wolfgang Amadeus Mozart. Ein Fauxpas, der in Österreich gar nicht gut ankam.
Gezickt und gezankt wird also bis heute. Doch selbst wenn der kleine Grenzverkehr es zuweilen nicht vermuten lässt: Am Ende gab es doch noch die Liebeshochzeit - symbolisch gewissermaßen. In Leipzig zeugt davon nur ein altes Plakat. Es ist das Jahr 1955; gerade hat Österreich mit dem Staatsvertrag seine "immerwährende Neutralität" verkündet. Die neue Autonomie ist hart errungen. Noch immer sind es nur 49 Prozent der Österreicher, die sich als eine eigene Nation fühlen. Nun also heißt es, das Volk zu versöhnen. Im Kino gibt es daher eine perfekte Lösung: Sissi - der Stoff für ein deutsch-österreichisches Happy End.
In gleich zwei Nachkriegsrepubliken schmachten seither Millionen von Fernsehzuschauern mit einem Piefke auf dem Habsburger Thron - dem Darmstädter Karl-Heinz Böhm. In wiederkehrenden Jahreszyklen schaut der seiner bayrischen Beuteprinzessin in die Augen, als wolle er sagen: "Und, seid's jetz' glück-lich?" Und Romy Schneider, die Wienerin aus Deutschland, schaut zurück wie die Unschuld und sagt zärtlich: "Joa!"- So muss es wohl klingen, das glücklichere Österreich.
"Verfremdete Nachbarn. Deutschland-Österreich". Zeitgeschichtliches Forum Leipzig. Noch bis zum 9. 10. 2006. Di - Fr 9 bis 18 Uhr. Sa/So 10 bis 18 Uhr. Eintritt frei. Im Kerber-Verlag ist zu der Ausstellung ein Katalog erschienen. Er kostet 27,95 Euro.