Der Termin hätte kaum passender sein können: Am Tag, als die Teilnehmer der Bürgerkonferenz zum Thema "Die Ursachen von Rechtsextremismus und mögliche Gegenstrategien der Politik" in Berlin ihre Ergebnisse vorstellten, präsentierte Innenminister Wolfgang Schäuble ein paar Straßen weiter den neuesten Verfassungsschutzbericht. Die rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten hätten im vergangenen Jahr um 23 Prozent zugenommen, heißt es darin, und als ob die brisanten Zahlen einer besonderen Bestätigung bedurft hätten, wurde wenige Tage zuvor in Berlin der türkischstämmige Landtagsabgeordnete Giyasettin Sayan von mutmaßlich rechten Schlägern krankenhausreif geprügelt.
Während all das die politischen Eliten veranlasste, über den Sinn und Unsinn von Reisewarnungen und die Existenz von No-Go-Areas zu streiten, näherte sich die Friedrich-Ebert-Stiftung dem Thema "Rechtsextremismus" auf eher unkonventionelle Weise. Sie schrieb über eine Adressenliste beliebige Bürgerinnen und Bürger aus Berlin und Brandenburg an und lud sie ein, eine so genannte "Bürgerkonferenz" durchzuführen. An drei Wochenenden sollten sie ein Bürgervotum mit Handlungsempfehlungen an die Politik erarbeiten, "als Ergänzung zur öffentlichen Debatte", wie Projektleiter Dietmar Molthagen betont. Der Einladung folgten 18 Bürger - Lehrer, Studenten, Renter, Arbeitslose, Menschen von Anfang 20 bis Mitte 60, neun Männer und neun Frauen, jeweils zur Hälfte aus Berlin und Brandenburg. In den letzten Wochen haben sie sich zusammengerauft, gemeinsam diskutiert und gelacht, aber auch heftig gestritten, und am Ende ein achtseitiges Papier erarbeitet, das die Ergebnisse ihrer Diskussion zusammenfasst. Am 22. Mai übergaben Sie es dem Bundestagsvizepräsidenten und Schirmherrn des Projekts Wolfgang Thierse.
Molthagen hatte bei dem Projekt zunächst durchaus Bauchschmerzen, wie er einräumt: "Es gibt ja bei diesem Thema so etwas wie richtige und falsche Meinungen", sagt er. "Wenn man den Raum so öffnet, wie wir es mit der Bürgerkonferenz getan haben, hat man als Veranstalter keine Möglichkeit mehr, einzugreifen. Wir, die Friedrich-Ebert-Stiftung, mussten also voll respektieren, was die Bürger denken und fordern. Das war nicht immer einfach." Auch jetzt, wo das Ergebnis vorliegt, würde er nicht jede Forderung der Bürger mit unterschreiben. Doch insgesamt, betont Molthagen, sei es "sehr differenziert und erstaunlich gut argumentiert." Er kann sich vorstellen, ein solches Projekt in Zukunft zu wiederholen.
Im Votum wird unter anderem Altbewährtes gefordert: etwa, die Zivilgesellschaft zu stärken, mehr Angebote für Jugendliche zu schaffen und Bildungsreformen anzuschieben. Vorgeschlagen wird aber auch, das Nationalgefühl zu stärken und einen "verpflichtenden Elternführerschein" einzurichten. Er soll die Eltern fit machen für die Erziehung ihrer Kinder und hierfür gewisse "Mindeststandards" schaffen. Von den Unternehmen verlangen die Bürger, dass sie mehr Verantwortung übernehmen, beispielsweise, indem sie Initiativen gegen Rechts fördern.
Viele Ideen also - allein, ob sie von der Politik aufgegriffen werden oder gar helfen, den Rechtsextremismus zu bekämpfen, ist fraglich. Die Treptowerin Ingrid Lange jedenfalls macht sich darüber wenig Illusionen: "Es ist doch klar, so lange es Menschen gibt, gibt es Gegner und Kriege. Das kriegt man nicht weg", sagt sie und schüttelt entschlossen den Kopf. Trotzdem fand die Rentnerin die Bürgerkonferenz "interessant": "Ich hatte den Eindruck, dass ich besonders in Bezug auf die Bildung viele Gedanken einbringen konnte", betont sie, und der Stolz darüber ist ihr deutlich anzumerken.
Der in der Türkei geborene Bauleiter Ilyas Arslan kam dagegen aus persönlicher Betroffenheit zur Konferenz. Für ihn sind rassistische Pöbeleien auf Baustellen außerhalb Berlins ein "alltägliches Problem": "Zuletzt habe ich drei Monate in Frankfurt an der Oder gearbeitet", erzählt der 41-jährige Familienvater. "Immer wieder wurden meine Kollegen und ich an der Fassade beschimpft. Einmal wurde sogar unser Bauwagen mit Parolen wie ‚Arbeit den Deutschen' und ‚Verpisst Euch' beschmiert." An den vergangenen Wochenenden hat er daher intensive Kontakte zu den anderen Teilnehmern geknüpft - um Vorurteile abzubauen, wie er sagt. "Kurt beispielsweise kommt aus einem brandenburgischen Dorf. Viele seiner Freunde, hat er mir erzählt, würden niemals nach West-Berlin fahren - wegen der Ausländer. Und auch er war noch nie da. Jetzt aber wird er mich zu Hause in Berlin-Schöneberg besuchen kommen." Arslan wird ihm zeigen, wo er lebt, ihn durch die Moscheen und das islamische Leben Berlins führen und ihm seine Familie vorstellen. "Vielleicht", hofft er, "kann Kurt seinen Freunden danach vermitteln, dass Muslime nicht alle radikal, sondern ganz normale Menschen sind". In diesem Fall hätte die Bürgerkonferenz schon Erfolg gehabt.