Spätestens seit der Gewalteskalation an der Rütli-Schule in Berlin-Neukölln, dem Ehrenmord an Hatun Sürücü und Detlev Bucks Film "Knallhart" wird wieder heiß über Migration und die Integration von Zuwanderern debattiert. Die Literatur zum Thema rückt in besonderer Weise ins Blickfeld. Einen herausragenden Beitrag liefert die Wiener Journalistin Corinna Milborn mit ihrer Reportagesammlung "Gestürmte Festung Europa. Einwanderung zwischen Stacheldraht und Ghetto".
Milborn hat sich direkt an die Brennpunkte des Geschehens gewagt: Sie war in der spanischen Exklave Ceuta, dem inzwischen fast hermetisch abgeriegelten Zugangstor vom afrikanischen Kontinent nach Europa. Dort hat sie nicht nur mit Sicherheitskräften gesprochen, sondern die Träume, Hoffnungen und Fluchterlebnisse der Migranten aufgeschrieben.
Die Chefredakteurin der Menschenrechtszeitung "liga" war in Marokko, um mit Schleppern zu sprechen. Sie hat sich nach Burkina Faso aufgemacht, um den Gründen für die Flucht aus Afrika nachzugehen. Sie war im Abschiebegefängnis im österreichischen Traiskirchen und in den Banlieues von Paris. Sie hat sich in die Hochburgen des Islamismus in London begeben und sich mit Illegalen im spanischen Almería, in Wien und in Paris getroffen. Und sie hat das somalische Ex-Model Waris Dirie und die Politikerin Ayaan Hirsi Ali zusammengebracht, um über den Islam und Frauenrechte zu diskutieren. Dass es ihr mit viel Geduld und Hartnäckigkeit gelungen ist, diese Menschen zu finden und zum Reden zu bringen, ist für sich schon eine große Leistung.
Milborn steuert etliche Zahlen und Fakten bei, doch das eigentliche Verdienst des Buches sind die Gespräche mit den Betroffenen. Da schildert ein Jugendlicher aus einem Pariser Vorort, wie sehr er sich mit Frankreich und dem Versprechen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit verbunden gefühlt hat, und welche Wut bei ihm die Erkenntnis auslöste, dass er in der französischen Realität von diesen Versprechungen ausgeschlossen ist. Aus Afrika Geflohene und Fluchtwillige erzählen von der verzweifelten Selbstverständlichkeit, mit der ihre Familien davon ausgehen, dass die Migration eines Angehörigen und die dann folgenden Geldüberweisungen aus dem Ausland ihre einzige Rettung sind. "Ich habe verstanden, dass Auswandern keine spontane Entscheidung ist: Es ist die tief verwurzelte Pflicht des älteren Sohnes, die Familie aus dem Elend zu retten", schreibt Milborn. Der Islam-Wissenschaftler Bassam Tibi stellt nach etlichen Gastprofessuren fest: "Wenn ich in den USA bin, werde ich ganz selbstverständlich akzeptiert. In Deutschland ist das nicht der Fall." Solche Berichte können viel Licht in das Dunkel von Fluchtursachen und von den Gründen für Abschottung und Zorn unter den hier lebenden Migranten bringen.
"Europa ist ein Pulverfass geworden, dessen Zündschnur brennt" - das ist die Grundthese, die Milborn aufstellt. Doch eine grundlegend geänderte Einwanderungspolitik könne die Zündschnur noch löschen, ist sie überzeugt. Sowohl das Konzept des Multikulturalismus in Holland und Großbritannien, das der Assimilierung in Frankreich als auch das deutsche Gastarbeitermodell hätten versagt. Die positiven Seiten der Migration für die von Vergreisung bedrohten Staaten Europas darzustellen, sei ebenso notwendig wie die Pflicht der Einwanderer, die demokratischen Grundwerte zu respektieren.
Das größte Problem, das sie sieht: Die abgeschotteten Ghettos der Migranten, aus denen es kaum ein Entkommen gebe. Vermischung statt Segregation ist Milborns Zauberwort. Die Notwendigkeit ihres Rezepts untermauert sie mit jeder einzelnen Reportage des Buches und macht es so zu einer absolut lesenswerten Lektüre.
Corinna Milborn: Gestürmte Festung Europa. Einwanderung zwischen Stacheldraht und Ghetto. Das Schwarzbuch. Styria Verlag, Wien/Graz/Klagenfurt 2006; 248 S., 19,90 Euro