Über der hohen, transparenten Eingangshalle der Hauptverwaltung des weltgrößten Handyherstellers in Helsinkis westlicher Satellitenstadt Espoo wölbt sich wolkenlos blauer Himmel. Im Gegensatz zu dem futuristischen Gebäude aus Stahl und Glas steht nur wenige hundert Meter entfernt das 40 Jahre alte Konferenzzentrum der Technischen Universität aus Natursteinen, Holz und Beton. Trotz ihrer unterschiedlichen Architektur haben beide Gebäude eines gemeinsam: Sie symbolisieren Strukturwandel und Tradition, aber auch Weltoffenheit. Zwei Eigenschaften, die für die 5,2 Millionen als still und verschlossen geltenden Bürger des nordöstlichsten EU-Mitgliedstaates noch bis vor einigen Jahren nicht charakteristisch schienen.
Noch in den 60er-Jahren glaubten selbst Exportchefs in der dominierenden Holz- und Papierindustrie, es genüge, mit Geschäftspartnern gut zu essen und in die Sauna zu gehen. Dann aber sammelten immer mehr Finnen im englischen Sprachraum Marketing-Erfahrungen und begannen, sie zu Hause umzusetzen. Sie taten das so erfolgreich, dass Finnland gelegentlich mit Japan verglichen wird.
Als beispielsweise nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen 1979 in Afghanistan die Nordamerikaner keinen russischen Wodka mehr trinken wollten, entdeckte ein cleverer Finne die Marktlücke und sorgte dafür, das man zwischen New York und Los Angeles Finlandia-Wodka kaufen konnte. Nachdem Anfang der 90er-Jahre die Sowjetunion zusammengebrochen war und in den Reformstaaten eine große Nachfrage nach Bananen entstand, wurden die Finnen die größten Bananen-Exporteure Europas: Sie sorgten durch effektive Kühlung auf Frachtschiffen und in Lagerhallen dafür, dass die begehrten südländischen Produkte schnell und frisch auf die neuen Märkte bis nach Kasachstan kamen. Und auch der finnische Handyriese produzierte ursprünglich einmal Gummistiefel - heute ist das Unternehmen weltweit die Nummer 1 beim Verkauf von Mobiltelefonen. Passend dazu stehen die Finnen ebenfalls in Sachen PISA-Wettbewerb auf Platz eins. Gegenwärtig halten sich 500 chinesische Experten in Finnland auf, um vom PISA- Spitzenreiter zu profitieren: Sie wollen in den nächsten anderthalb Jahren das Schulsystem in 1.700 Orten des Riesenreiches nach finnischem Beispiel ändern. Bis Anfang der 70er-Jahre musste das Land mit einer 1.269 Kilometer langen Grenze zur damaligen Sowjetunion mit dem Vorurteil leben, politisch und wirtschaftlich von Moskau abhängig zu sein. Mit dem Start der KSZE-Beratungen am 22. November 1972 und mit der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte am 1. August 1975 wurde der "Geist von Helsinki" geboren - ein Markenzeichen für geduldige und erfolgreiche Entspannungspolitik.
Mit diesen Pfunden wollen die Finnen wuchern, wenn sie am 1. Juli - zum zweiten Mal nach 1999 - die EU-Präsidentschaft übernehmen. Sie haben längst gelernt, dass im rauen Klima der globalisierten Welt vornehme Zurückhaltung nicht honoriert wird. Sie wissen, dass sich die Europäer nicht auf ihren Lorbeeren ausruhen dürfen, wenn sie nicht abgehängt werden wollen. Leif Fagernäs, von 2001 bis2004 Finnischer Botschafter in Berlin und seitdem Generaldirektor des Hauptverbandes der finnischen Wirtschaft, bringt es so auf den Punkt: "Es reicht uns nicht, Primus in einer mittelmäßigen Klasse zu sein."
In der finnischen Sprache gibt es das Wort SISU, das nur schwer zu übersetzen ist. Es bedeutet Durchsetzungsvermögen, Energie, Ausdauer, Unbeirrbarkeit. Mit SISU wollen die Finnen die schwierige Aufgabe angehen, die eine EU-Präsidentschaft mit sich bringt. Petri Tuomi-Nikula, Chef der Abteilung Kommunikation und Kultur im finnischen Außenministerium, geht von drei Hauptschwerpunkten aus: Verfassungsvertrag, sichere Energieversorgung, Förderung von Wachstum, Modernisierung und Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft. Auch im Gespräch mit ihm wird das gewachsene Selbstbewusstsein der Finnen, die bei der Erfüllung der EURO-Kriterien unverändert ein Plus haben, deutlich. Auf die erste EU-Präsidentschaft im zweiten Halbjahr 1999 angesprochen, antwortet er: "Natürlich wollten wir zeigen, dass wir als neues Mitglied in der Lage waren, diese Herausforderung mit Bravour zu meistern" und fügt hinzu: "was auch gelungen ist".
Wenig später erscheint sein 60-jähriger Chef, der sozialdemokratische Außenminister Erkki Tuomioja. Den Verfassungsvertrag möchte der finnische Außenminister lieber "Grundlagenvertrag" nennen, weil die EU kein Staat ist. Damit berücksichtigt Finnland die Bedenken der Europaskeptiker. "Der Vertrag ist nicht perfekt, aber als Kompromiss besser als die bisherige Situation." Insgesamt hofft Tuomioja aber vor allem eins: Dass die EU-Präsidentschaft nicht durch Naturkatastrophen, Krisen im Nahen Osten oder auf dem Energiesektor beeinträchtigt wird und Finnland mit einer günstigen Bilanz zum Jahreswechsel den Stab an Deutschland weitergeben kann.