Es hätte immer so bleiben können. Es war ein schöner Abend gewesen, den die Jungen vor ihrer Hütte am Meer verbracht hatten. Mit einer Tasse Tee hatten Juanda und Rico, Amir, Mirdia und Surya sich gleich nach der Arbeit an den Strand gesetzt und auf die Wellen geguckt. Irgendwann waren sie eingeschlafen. Ziemlich genau um acht Uhr, als die Erde im Norden Sumatras so heftig bebte wie es keiner der Jungen kannte, wurden sie wach. Seither ist nichts mehr so wie es war.
Heute sitzen die Jungen vor einer winzigen Hütte, in der nicht nur sechs Menschen arbeiten, sondern manche von ihnen auch schlafen. Das provisorische Gebäude steht in Calang, einer kleinen Stadt an der Westküste der indonesischen Provinz Aceh, die kaum einer kennt - die aber keiner, der dort war, wieder vergessen wird. Wer einmal gesehen hat, was der Tsunami des 26. Dezember 2004 von der Stadt übrig gelassen hat, dem brennt sich der Anblick unweigerlich ins Gedächtnis.
Als die riesige Welle aus drei Richtungen gleichzeitig hereinbrach, machte sie die Stadt dem Erdboden gleich: Von 13.000 Einwohnern überlebten 3.500; weniger als jeder Dritte. Und auch von den Gebäuden in der Stadt blieb so gut wie keines stehen: Nur die große Moschee im Stadtzentrum hat - wie an so vielen Orten in Aceh - wie durch ein Wunder der Wucht der Wellen standgehalten. Wo früher Fischer und Händler die Gassen und Märkte belebten, gibt es keine asphaltierten Straßen und kein Haus mehr. Beide Häfen sind zerstört; von dem einem kann man nur noch erahnen, wo er war; der andere fasst nur noch fünf Boote, große Fischerboote oder kleine Fähren. Heute aber, an einem ganz gewöhnlichen Wochentag rund um den Jahrestag des Tsunami, liegt nur ein einziges Boot im Hafen - das Privatboot des ortsansässigen Landrats für Verkehr. Wo die Fischer sind? Juanda schüttelt den Kopf, zuckt mit den Schultern: "Draußen auf dem Meer? Einige. Wahrscheinlicher aber arbeitslos, irgendwo in der Stadt. Hier ist ja kaum noch jemand, der ihnen etwas abkauft." Auf dem Markt, den die Calanger notdürftig wieder errichtet haben, geht es so ruhig zu, dass man sich fragt, wie jemand von dem wenigen Verkauften leben kann. Weil viele Einwohner gestorben sind - aber auch, weil nicht wenige Hinterbliebene weggezogen sind, die Flucht ergriffen haben, als nichts mehr stand, meist in die große Stadt im Norden, die Provinzhauptstadt Banda Aceh.
"Was die Menschen vor allem brauchen, ist die Rückkehr der Hoffnung", sagt der "Bupati", der Landrat der Region, "wir können es uns nicht leisten, weitere Menschen zu verlieren." Ein gutes Jahr nach dem Tsunami ist der Wiederaufbau zwar in vollem Gange - aber dennoch: Ein Jahr ist eine lange Zeit, ohne Haus, ohne Arbeit, ohne die vertraute Umgebung.
Juanda, ein junger Mann mit wachen Augen und einem - angesichts dessen, was er durchgemacht hat - erstaunlichen Sinn für Humor sagt, dass es für ihn nie ein Thema war zu gehen: "Das ist hier mein Zuhause, hier sind meine Freunde - die, die noch leben, jedenfalls." Dann sagt er noch, dass es aussieht wie im Krieg: "Und nach einem Krieg muss man ja auch wieder aufbauen." Seit dem Tag, an dem die Erde bebte, leisten er und seine Freunde Enormes. Sie alle sind Freiwillige des Indonesischen Roten Kreuzes. Nach dem Tsunami haben sie wochenlang nichts anderes getan als Leichen freizulegen und deren Angehörigen zu suchen. "Das war furchtbar", sagt Juanda, "aber einer musste es ja machen."
Die Jungen legten Massengräber an und sorgten für die Hinterbliebenen: mit psychologischer Betreuung, der Verteilung von Decken, Plastikfolien, Lebensmitteln und ein paar Gegenständen, die im Nichts die Küche ersetzen mussten.
Dass sie nach der Nacht am Wasser den Morgen des 26. Dezember überhaupt überlebt haben, ist entweder reiner Zufall - oder, wie Juanda glaubt, Schicksal. Der 28-Jährige hatte schon in der Minute des Bebens, das der verheerenden Welle im Westen Acehs nur um zwölf bis 18 Minuten vorausging, eine böse Ahnung. Sofort rannte er nach Hause. Sein Vater stand schon vor der Tür und ließ seinen Sohn gar nicht mehr ins Haus: "Da kann ein Tsunami kommen. Lass uns laufen." Gemeinsam rannten sie auf den kleinen Hügel, der mit seinem hoch herausragenden Mobilfunkmast so etwas wie ein kleines Wahrzeichen von Calang ist. Die anderen Jungen waren nicht so geistesgegenwärtig. Erst als sie sahen, dass das Wasser sich weit über hundert Meter zurückzog, verließen sie den Strand, weil ihnen unheimlich wurde. "Wenn das Wasser weg ist, kommt es vielleicht wieder", - das hatten sie einmal in der Schule gehört. Auf dem Heimweg verloren sie sich. Amir und Mirdia rannten ebenfalls Richtung Hügel; Rico schnappte sich sein Moped und fuhr los. Zu spät. Das Wasser erwischte ihn noch auf der Küstenstraße, die die Westküste Sumatras von Banda Aceh mehrere hundert Kilometer in den Süden führt und heute fast vollständig zerstört ist. Gnadenlos riss die Welle den 24-Jährigen mit sich - bis er, was er bis heute kaum fassen kann, einen Mangobaum erwischte. Auf dem Baumstamm paddelte er zu dem rettenden Hügel, auf dem sich da bereits über 1.000 Menschen versammelt hatten.
Nun sitzen sie hier - pathetisch gesprochen geradezu als Hoffnungsträger einer Welt, die zurzeit noch im Entstehen ist: einer neuen Stadt, mit neuen Häusern, neuen Geschäften und vielleicht auch mit ganz neuen Berufen. Ob Calang jemals wieder ein Zentrum der Fischerei wird, ist höchst fraglich. Weil nach einer Jahrhundertkatastrophe wie dem Tsunami, der alleine in der Provinz Aceh 170.000 Menschenleben forderte, sowieso alles offen ist. Aber auch weil auch ein Jahr nach dem Tsunami sämtliche Überlebenden noch vollauf mit dem Wiederaufbau beschäftigt sind - und, so merkwürdig das klingen mag, die Arbeitslosigkeit in der für indonesische Verhältnisse recht wohlhabenden Provinz nie so hoch war wie heute. Es gibt keine Firmen, keine Fabriken, keine Industrie mehr - auch keine, die Fisch verarbeitet. Was es stattdessen gibt, sind kleine Handwerksbetriebe; allen voran Schreinereien. Auch Männer, die zum Tischler umschulen, finden sich in jedem Ort zuhauf. Wie auch Frauen, die am Meer sitzen und Steine zerhauen. Seit sechs Stunden hockt Indra schon am Strand der Insel Pulau Weh und macht eine immergleiche Handbewegung: Sie haut mit einem Stein auf andere Steine, bis diese zerbrechen. Hundert Meter entfernt hauen die Männer aus dem Dorf riesige Brocken aus dem Fels und machen sie so klein, dass sie in eine Schubkarre passen. Neben einer riesigen Wanne, die die Luft noch heißer macht als sie ohnehin schon ist, übernehmen die Frauen. Klein und immer kleiner hacken sie den Fels; so lange, bis sie zum Asphaltkochen in die große Stahlwanne gekippt werden und so ein paar weitere Zentimeter Straße produziert werden können. Bis es soweit ist, muss das kleine Fischerdorf Krueng Raya auf der Insel, die vor wie nach dem Tsunami völlig zu Recht als Tropenparadies gilt, ohne eine schnelle Anbindung an die Hauptstraße auskommen.
Der Ehemann der 28-jährigen Indra ist einer der wenigen, die nicht mit dem Straßenbau beschäftigt sind. Schon im Januar 2005 kaufte er von seinem Ersparten ein neues Boot und ging wieder fischen. Dass Indra seitdem immer ein bisschen mehr Angst hat als vorher, streitet sie nicht ab. Aber: "Er ist Fischer", sagt sie, "was soll er machen? Er ist auf dem Meer groß geworden und er wollte unbedingt dorthin zurück." Ein paar Tage nicht - und dann doch.
Dass viele Menschen nach der verheerenden Kata-strophe nur sehr kurz mit dem Meer nichts mehr zu tun haben wollten, ist eine Erfahrung, die man in Aceh überall machen kann: Ob in der Großstadt Banda Aceh, der zerstörten Stadt Calang oder auf der Insel Pulau Weh - überall sind die Menschen längst zurück am Wasser. Es ist also doch nicht alles anders als vorher. Warum, wo man doch mit dem ständigen Risiko lebt, dass das Wasser noch einmal zurückkommt? Juanda sagt es noch einmal: "Zuhause ist Zuhause. Andere Menschen haben vielleicht mehr Glück mit dem Ort, an dem sie groß geworden sind."
Die Autorin arbeitet als freie Journalistin in Berlin. Von November 2005 bis Januar 2006 war sie als Pressesprecherin des Deutschen Roten Kreuzes in Aceh tätig.