20 Milliarden Kubikmeter Erdgas aus deutschen Quellen gehen jedes Jahr ins Netz - das meiste kommt aus Norddeutschland. Beim Erdöl decken immerhin drei Millionen Tonnen Jahresproduktion zwei Prozent der Binnennachfrage ab; beim Erdgas sind es gar 20 Prozent. Das ist im internationalen Vergleich wenig, bei der gegenwärtigen Energiesituation aber auch nicht völlig unbedeutend. Die wichtigste Erdölreserve befindet sich im Büsumer Salzstock, nur wenige Kilometer vor der Westküste Schleswig-Holsteins mitten im Naturschutzgebiet Wattenmeer gelegen. Dort betreibt ein Konsortium aus der Kasseler Wintershall AG und der Hamburger RWE-DEA als Betriebsführer die Bohr- und Förderinsel "Mittelplate". Die einzige deutsche Offshore-Öl-Plattform - ihre Schwester "A6/B4" fördert auf hoher See Erdgas - ist aufgrund der ökologisch diffizilen Lage ein wirtschaftliches, umweltpolitisches und technisches Unikum.
Die Exploration von Nordseeöl ist ein Resultat der Ölkrise von 1973. Damals blockierte die OPEC wegen der amerikanischen Israel-Politik für kurze Zeit den Export nach Europa. Das bis dahin billige Öl verteuerte sich schlagartig. Ein Barrel Rohöl (159 Liter) kostete vor der Ölkrise 2,83 US-Dollar, vervierfachte sich bis 1974 und erreichte 1979/80 - in der zweiten Ölkrise nach der Revolution der Mullahs im Iran - das damalige Rekordhoch von 36,15 US-Dollar.
Im Vergleich zu den jüngsten Preisen um 70 US-Dollar pro Barrel ist das ein Klacks. Die westliche Welt, die damals 80 Prozent ihres Öls aus der Golfregion bezog, wurde sich aber ihrer Abhängigkeit von der OPEC bewusst und suchte nach Alternativen. Eine war die Nordsee. Gerade für das importabhängige Deutschland wurde sie zur wichtigsten Rohstoffquelle. Norwegen und Schottland erlebten in den 70er- und 80er-Jahren einen Öl- und Gasboom, Deutschland nicht. Die Nordsee wurde zu einem Industriegebiet mit einem der bemerkenswertesten Investitionsvolumen der europäischen Wirtschaftsgeschichte und zum weltweit wichtigsten Gebiet der Offshore-Förderung.
Gegenwärtig gibt es rund 450 Nordseebohrinseln zur Öl- und Gasförderung, die meisten in Großbritannien, gefolgt von Norwegen, Holland und Dänemark. Die wichtigsten Felder liegen mit Ekofisk und Stafjord im norwegischen Nordsee-Schelf. Dort liegt mit dem Troll-Feld auch der größte Gasvorrat, für dessen Ausbeutung auch die vom Sockel bis zur Spitze des Gasfackelmastes 472 Meter messende größte Bohrinsel der Welt gebaut wurde. Stellte man "Sea Troll" neben den Pariser Eiffelturm, so würde sie ihn um 172 Meter überragen. Gegenüber solchen Riesen ist Deutschland mit je einer Öl- und Gas-Offshore-Förderanlage ein Zwerg. Bis 2002 betrieb RWE-DEA in der Ostsee 16 Jahre lang die zwei Plattformen "Schwedeneck-See A und B", die dann aber abgebaut wurden. So bleibt Deutschland importabhängig. Auch 2005 kamen noch 28 Prozent der rund 112 Millionen eingeführten Tonnen Rohöl aus Norwegen und Großbritannien. Handelspartner Nummer eins ist mittlerweile Russland mit 34 Prozent, 23 Prozent des deutschen Bedarfs decken die OPEC-Staaten, so die Statistiken des deutschen Mineralwirtschaftsverbandes in Hamburg.
Dass die deutsche Offshore-Förderung nur eine untergeordnete Rolle spielt, hat vor allem technische Gründe: Die Förderung des wenigen deutschen Öls ist kompliziert, die Lagerstätten liegen in tiefen Gesteinsschichten. Im Bereich der "Mittelplate" wurden bei ersten Testbohrungen 1980/81 respektable Vorräte entdeckt. Obwohl seit 1987 bereits über 15 Millionen Tonnen gefördert wurden, schätzen die Betreiber die wirtschaftlich erschließbaren Reserven auf 35 bis 40 Millionen. Ganz gleich wie sich der Weltmarktpreis entwickeln wird und trotz der Investitionskosten von 485 Millionen Euro - die beiden Erdölkonzerne haben eine Milliardenquelle angezapft.
Die Ölförderung im Wattenmeer wurde nur mit hohen ökologischen Auflagen genehmigt. Die künstliche Insel ist fast vollständig von der Umwelt abgeschottet. So wird das mit dem Erdöl geförderte Wasser wieder in die Lagerstätte zurückgepresst, das Abwasser der Plattformmannschaft auf der Förderinsel geklärt und in Tanks an Land gebracht, das Regen- und Spritzwasser auf der "Mittelplate" gereinigt und nur dann in die Nordsee eingeleitet, wenn die Grenzwerte eingehalten sind. Einmal pro Jahr wird die Plattform einer Umweltprüfung unterzogen. Der Transport des Öls geschieht durch doppelwandige Schlepper, die extra den Verhältnissen des Wattenmeeres angepasst wurden. "Die ,Mittelplate' ist so rein wie eine Apotheke", meint deshalb der Wintershall-Erdöl-Ingenieur, Kurt Sackmaier.
Carsten Smid, Öl-Experte bei Greenpeace Deutschland, sieht die Förderung in einem Naturschutzgebiet, in dem Millionen Zugvögel rasten, dennoch in "einem hohen Maße kritisch": "Wir wünschen uns, dass die Plattform so schnell wie möglich verschwindet." Allerdings hält er fest, dass die "Mittelplate" relativ sauber sei und bisher ohne Störfälle laufe. An anderen Produktionsstätten seien 5.000 bis 8.000 Quadratkilometer Nordseeboden - eine Fläche doppelt so groß wie das Saarland - durch öligen Bohrschlamm, Bohrabfälle und Produktionswasser verschmutzt worden. Genau das werde aber bei der "Mittelplate" nicht in die Nordsee geleitet, bestätigt Smid.
Wer sich der "Mittelplate" per Schiff nähert, vermisst zunächst die krakenartigen Pfeiler, die das Bild von Offshore-Anlagen prägen. Der Besucher sieht eine aufgeschüttete Insel, die wie eine gigantische Stahl-Beton-Badewanne im Niemandsland zwischen Küste und offener See liegt. Auf der 70 mal 95 Meter großen Plattform dominiert Technik pur. Jeder Quadratmeter wird für Bohrturm, Fördergerät, Tanks, Kran und Unterbringung des 50-köpfigen Teams genutzt. Nach einer Testphase von 1987 bis 1991 begann die Förderung, die heute bei 900.000 Tonnen liegt. Seit Sommer 2000 wird auch von Land aus mit 8.000 bis 9.000 Meter langen, abgelenkten Bohrungen Nordseeöl gefördert, was jährlich weitere 1,2 Millionen Tonnen erbringt. Damit nicht genug: Mit dem im Sommer 2005 installierten neuen Bohrturm "T-150" soll die Offshore-Jahresleistung auf 1,2 bis 1,6 Millionen und die Gesamtförderung - onshore und offshore - auf über 2,5 Millionen Tonen gesteigert werden. Die Anlage, von der im niedersächsischen Bad Bentheim ansässigen Drilling-System-Firm Bentec GmbH für 50 Millionen Euro konstruiert, dringt in Tiefen von 2.000 bis 3.000 Meter vor.
Technische Verbesserungen bei den Bohrungen sind für die Ölfirmen wichtig, denn die Suche nach dem schwarzen Gold in den tiefen Gesteinsschichten ist teuer: 1 Million Euro kostet eine flache Bohrung, 50 Millionen eine Tiefwasserbohrung. "Nicht jede Bohrung wird fündig", erklärt Sackmaier. Weltweit liege die Fundwahrscheinlichkeit bei 28 Prozent, nur etwa jede vierte Bohrung werde ein Erfolg.
Ende Oktober 2005 wurde der 100 Millionen Euro teure Bau einer knapp zehn Kilometer langen Pipeline von der "Mittelplate" zur Landstation Dieksand im schleswig-holsteinischen Friedrichskoog abgeschlossen. Durch die Direktleitung falle der Erdöltransport per Schiff weg. Damit könne die Produktion beschleunigt und erweitert werden so RWE-DEA-Pressesprecher Derek Mösche. Das Feld werde etwa zehn Jahre früher ausgebeutet als zunächst geplant.
Für die Autofahrer in Deutschland bringt das Nordseeöl kaum Vorteile. Wer an einer der 15.500 deutschen Tankstellen vorfährt, hat hinterher nicht unbedingt Sprit von der "Mittelplate" im Tank. Deutsches Nordseeöl hat auch keinen Einfluss auf den Preis. Der ist an den Weltmarkt gekoppelt. Entscheidend ist zudem die Auslastung der Raffinerien. Die 14 deutschen Raffinerien besitzen eine Erdöldestillationskapazität von etwa 114 Millionen Tonnen und sind zu fast 95 Prozent ausgelastet. Die hohe Auslastungsquote ist für Barbara Meyer-Bukow, die Pressesprecherin des deutschen Mineralölwirtschaftsverbandes, ein entscheidender Grund für die gestiegenen Preise: "Weltweit - allen voran in China, Indien und den USA - steigt die Nachfrage nach Öl bei gleichzeitig sehr engen Raffinerie-Kapazitäten." Hinzu kämen die Angst vor dem Terror, die Situation im Irak und Spekulanten. Sie kennten die Besonderheiten der Rohstoffmärkte nicht, würden nur investieren, um mit den knappen Ressourcen eine hohe Rendite zu erzielen.
2005 ist Öl im Vergleich zum Vorjahr um 50 Prozent teurer geworden. Nach einer ökonomischen Faustregel kostet eine solche Preissteigerung etwa 0,6 Prozent Wachstum. Für Reinier Zwitserloot, den Vorstandsvorsitzenden der Wintershall AG, ist es deshalb nötig, dass Europa im Rahmen einer "realistischen und international ausgerichteten Energiepolitik" zu einer stärkeren Zusammenarbeit mit den Produzentenländern von Öl und Gas kommt. Europa besitze als zweitgrößter Energieverbraucher und größter Importeur der Welt den Vorteil der geografischen Nähe zu den wichtigsten Ressourcen der Welt: "Rund 80 Prozent der weltweiten Erdgas- und Erdölreserven liegen im Umkreis von 4.500 Kilometern um Berlin." Dieser Vorteil müsse genutzt werden, denn die neuen Wettbewerber wie China und Indien seien bereit, mehr als den gängigen Marktpreis zu zahlen. Trotz geänderter Rahmenbedingungen hat die BASF-Tochter ihre Position am Markt ausgebaut, den Nettoumsatz auf 8,38 Milliarden Euro gesteigert und einen Gewinn von 631 Millionen Euro erzielt. Der Vorstandsvorsitzende erwartet auch für 2006 ein hohes Rohölpreisniveau. Was für den Endkunden schlecht ist, erweist sich für die Industrie als Vorteil, bringt es ihr doch neue Mittel für Exploration und Produktion in immer schwieriger zu erschließenden Tiefen. So will auch die Wintershall Investitionen in einer Größenordnung von 450 Millionen Euro tätigen, wovon allein 120 Millionen auf die südliche Nordsee entfallen. Ihr schreibt Zwitserloot gerade im Erdgasbereich "noch erhebliches Potenzial" zu.
RWE-DEA konzentriert sich in der Nordsee zunehmend auf das an Bedeutung gewinnende Gasgeschäft. Erst im Mai 2006 baute die englische Tochter RWE-DEA UK durch den Zukauf eines 37,5 Prozentanteils am britischen Erdgasfeld Topaz ihre Position in der südlichen Nordsee weiter aus, wo sie Gasfelder zusammen mit der Gaz de France Britain Ltd. betreibt.
Auch wenn sich die Wintershall AG im Wettbewerb gut positioniert hat, dominieren auf dem deutschen Erdölmarkt die Global Players: BP, die Aral aufgekauft hat, und Shell, die die DEA-Tankstellen schluckte , sowie Esso und TotalFinaElf. Auch deshalb kann sich die deutsche Ölindustrie den weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen nicht entziehen. Erdgas und Erdöl aus deutschen Quellen leisten dennoch einen Beitrag zur Sicherung der deutschen Energieversorgung und geben immer fast 6.500 Menschen in der Produktion Arbeit. Und auch wenn die "Mittelplate" in der globalisierten Energiewelt nur eine untergeordnete Rolle spielt, verringere doch jede geförderte Tonne Öl, so Derek Mösche, zumindest ein wenig die Importabhängigkeit Deutschlands.
Roland Löffler arbeitet als freier Journalist in Marburg-Elnhausen.
Informationen im Internet: www.mittelplate.de