Die Suche nach Arzneimitteln in der Natur hat eine lange Tradition. Bereits 2600 vor Christus setzten die Mesopotamier Myrrhe therapeutisch ein. Die Sumerer verabreichten Präparate aus Schlangenhaut und die alten Ägypter empfahlen Krokodilfett zur Behandlung verschiedener Krankheiten. Jahrhundertelang stolperten die Menschen eher zufällig über biologisch wirksame Naturstoffe; heute wird die Suche danach systematisch betrieben.
Von 1960 bis 1982 wurden weltweit mehr als 114.000 Pflanzenextrakte auf ihre biologische Wirk-samkeit untersucht. Acht der 30 umsatzstärksten Arz-neimittel in den USA sind gegenwärtig natürlicher Herkunft. Fortschritte in der Tauchtechnik machten in den 50er-Jahren auch die Meeresbewohner zu Objekten pharmazeutischer Forschung. Und inzwischen halten die Apothekerschränke einige Mittel bereit, die ur-sprünglich aus dem Meer stammen. Zum Beispiel das Cephalosporin, ein Antibiotikum das seit 1965 kom-merziell erhältlich ist und in einem marinen Pilz ent-deckt wurde. Oder das Ara-A, das seit 1979 gegen Herpes-Virus-Infektionen eingesetzt wird und aus ei-nem Schwamm stammt. Seit etwa einem Jahr ist in den USA das Conotoxin als Medikament zugelassen. Dieses hochwirksame Gift stammt aus marinen Kegel-schnecken, die meist deutlich langsamer sind als ihre Beute. Im Verlauf ihrer Evolution hat sich daher eine einzigartige Fangmethode entwickelt: Fisch fressende Kegelschnecken lauern versteckt im Ozeanboden und bieten ihre Atemröhre als Köder an. Nähert sich ein Fisch, schießen die Schnecken einen Giftpfeil ab, der die Beute tötet. In der richtigen Dosierung wirkt dieses Toxin beim Menschen als Schmerzmittel. Selbst in Fällen, bei denen Morphinpräparate nicht mehr ausrei-chend wirksam sind, verschafft es Linderung ohne süchtig zu machen.
Die Forscher der marinen Biotechnolgie sind davon überzeugt, dass in den Ozeanen noch zahlreiche pharmazeutisch interessante Wirkstoffe schlummern. Die Frage ist nur, wie die Wissenschaftler sie aufspüren können. "Das Screening ist ein ungeliebtes Verfahren, aber wir versuchen damit dem Zufall ein wenig nachzuhelfen", beschreibt Johannes Imhoff die Methoden, mit denen zahlreiche Froschergruppen systematisch suchen. Am Institut für Marine Biotechnologie e.V. in Greifswald halten die Mikrobiologen am Anfang meist eine Wasserprobe in den Händen. "Im ersten Schritt versuchen wir einzelne Arten auf Kulturplatten zu isolieren", erläutert Ulrike Lindequist, die Leiterin des Instituts. In Reinkultur werden die Algen oder Pilze dann so lange vermehrt, bis genügend Biomasse für biologische Testsysteme vorhanden ist. Mit Hilfe von Zellkulturen untersuchen die Wissenschaftler dann, ob ein Extrakt aus Biomasse und Medium eventuell ge-gen Bakterien, Viren oder Pilze wirksam ist. In Greifs-wald wird außerdem geprüft, ob der Extrakt Substan-zen enthält, die Hautzellen widerstandsfähiger gegen UV-Strahlen machen, die Lebensdauer von Zellen be-einflussen oder gegen Tumorzellen wirken.
Haben die Mikrobiologen eine auffallende Wirkung entdeckt, müssen sie versuchen, die dafür verantwort-liche Verbindung zu isolieren. "Das ist ein sehr müh-samer und langwieriger Prozess", sagt die Pharma-zeutin Ulrike Lindequist. War er erfolgreich, können die Forscher ein Patent anmelden und hoffen, dass sie nun auch die nächste Hürde auf dem Weg zum markt-reifen Produkt meistern: das Upscaling. Für die klini-schen Tests müssen die Biotechniker den Wirkstoff in großen Mengen produzieren können. "Da herrscht jetzt eine ganz neue Denkweise an den Universitäten", sagt Werner Müller vom Institut für physiologische Chemie der Universität Mainz. "Bisher wurde eine Substanz häufig entdeckt, publiziert und das war es dann. Aber ohne Upscaling geht es nicht weiter bis zum Produkt." Der Professor ist Leiter des Kompetenzzentrums BIOTECmarin, das seit 2001 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird. Eine von der Projektleitung gegründete Verwertungsgesellschaft soll sicher stellen, dass interessante Wirkstoffe auch Produktreife erlangen. "Unser nationa-les Exzellenzzentrum mit acht Universitäten ist ein wichtiges Beispiel, wie gut Förderpolitik in Deutschland funktionieren kann", schwärmt der Mainzer Professor. "Was da unter Frau Bulmahn geschaffen wurde, ist weltweit beispiellos."
Zu Beginn dieses Jahrhunderts hinkten deutsche Biotechnologen noch ihren amerikanischen und japanischen Kollegen hinterher. Jetzt haben sie den Anschluss geschafft und sind in einigen Bereichen sogar führend. Bereits im ersten Förderjahr entdeckten die Forscher einen Wirkstoff, der in biologischen Tests gegen Leukämiezellen wirkt. Das Sorbicillacton filterten sie aus Pilzen heraus, die in Meeresschwämmen leben. Innerhalb von nur wenigen Monaten gelang es den Kieler Verfahrenstechnikern, 100 Gramm dieses Wirkstoffs zur Verfügung zu stellen. "Das klingt wenig, ist aber sensationell", sagt Johannes Imhoff. Erste klinische Test laufen bereits. "Viele pharmazeutisch interessante Substanzen gibt es auch 15 Jahre nach ihrer Entde-ckung noch nicht als Medikament, weil es Nachschubprobleme für die Wirksamkeitstests gibt", urteilt Imhoff. Schließlich können die Wissenschaftler nicht einfach die Meere plündern und sämtliche Schwämme vernichten. Der Erhalt der Artenvielfalt ist bei der Erforschung der Ozeane besonders wichtig. Der wertvolle genetische Pool darf keinem Raubbau zum Opfer fallen. Verfahrenstechniker müssen daher andere Wege finden, die Wirkstoffe zu produzieren.
Dafür kommen drei Möglichkeiten in Betracht: Chemiker können die exakte Struktur des neuen Wirkstoffs analysieren und dann versuchen, ihn im Reagenzglas zu synthetisieren. Bei der biologischen Variante nutzen Verfahrenstechniker den Organismus als Produzenten. Im Fall des Sorbicillacton ist es zum Beispiel gelungen, dem Pilz im Labor ein ähnliches Zuhause zu bieten wie im Schwamm. Er kann nun in großem Maßstab kultiviert werden und das Sorbicillac-ton herstellen. Bei der dritten Möglichkeit kommen Molekularbiologen ins Spiel. Haben sie das Gen, das für die Bildung des jeweiligen Wirkstoffs verantwortlich ist, gefunden, können sie versuchen, es mit Hilfe gentechnischer Methoden in andere, leicht zu kultivierende Organismen zu übertragen, die dann den gewünschten Wirkstoff produzieren.
Das es ausgerechnet ein Pilz war, in dem das poten-zielle Krebsmittel entdeckt wurde, erstaunte Johannes Imhoff. "Ich bin von Haus aus Bakteriologe und habe bis vor drei Jahren Pilze eher als lästige Übel empfun-den. Jetzt habe ich mich bekehren lassen", erzählt er augenzwinkernd.
Doch der Pilz und sein Sorbicillacton wird nicht die letzte Überraschung sein, die das Meer bereithält. Viele neue Wirkstoffe, von denen ihre Entdecker zunächst glaubten, sie hätten sie aus Schwämmen extrahiert, stammen gar nicht aus diesen bewegungslosen Tieren, sondern aus Bakterien oder Pilzen, die in enger Verbindung mit dem Schwamm leben. Ein Kilogramm Schwamm strudelt pro Tag eine Tonne Meerwasser mit Milliarden von Kleinstlebewesen durch seinen Körper und ist damit vielen potenziellen Feinden ausgesetzt. Um sich zu schützen, locken die Schwämme bestimmte Mikroorganismen gezielt an. Diese Untermieter und der Schwamm selber produzieren dann zahlreiche Abwehrstoffe, die auch in tausendfacher Verdünnung wirken; sie sind Meister biologischer Kriegsführung. Hinzu kommt, dass das Immunsystem der Schwämme dem des Menschen ähnelt. "Und genau aus diesen Gründen ist ihre Erforschung so viel versprechend für die Medizin", ist Werner Müller überzeugt.
Darüber hinaus rücken die Mainzer Wissenschaftler auch das Silikatgerüst der Schwämme und die dafür verantwortlichen Enzyme in den Fokus ihrer For-schung. Sie können für die Oberflächenbeschichtung von Implantaten und in der Nanotechnologie genutzt werden. "Wir können damit Nanoröhren aus Titan de-korieren", erklärt Müller begeistert und betont: "Die Schlüsselpatente dieser Technologie finden sie hier bei uns in Deutschland."
Auch die Forscher um Ulrike Lindequist in Greifswald konzentrieren sich nicht nur auf pharmazeutische Aspekte sondern haben auch praktische Bedeutungen für den Menschen im Blick. "Interessant sind beispielsweise Enzyme, die aus kältetoleranten Mikroorganismen stammen", sagt die Pharmazeutin. Deren optimale Wirktemperatur ist mit 16 Grad deutlich niedriger als die von Enzymen aus am Land lebenden Organismen, die 30 Grad benötigen. Diese Eigenschaft hat große Bedeutung für die Lebensmittelindustrie, da die Ausgangsstoffe unter dem Einsatz mariner Enzyme nicht mehr so stark erhitzt werden müssen. Auch die Waschmittelindustrie bekundet Interesse, könnte doch mit diesen Enzymen die Kochwäsche bald Vergangenheit sein.
Euphorie und Abreitseinsatz der marinen Biotechnologen sind groß und ihre bisherigen Entdeckungen viel versprechend. Was davon in den nächsten Jahren tatsächlich marktfähig wird, bleibt abzuwarten.
Manuela Röver ist Biologin und arbeitet als freie Wissenschaftsjournalistin.