Hans-Michael Goldmann blickt direkt von seinem Schreibtisch im Bundestag auf die Nordsee. Zwar fehlen Wellenrauschen und Möwengeschrei, und für eine halbwegs frische Brise sorgt nur die Klimaanlage. Aber immerhin: Die große Landkarte an der Wand seines Büros im Jakob-Kaiser-Haus schafft für den FDP-Abgeordneten eine Verbindung zur geliebten Küste.
Alle Parlamentarier, die sich als Lobbyisten des Meeres verstehen, scheinen so eine Nabelschnur zu haben. Für Goldmanns Kollegin von der Fraktion Die Linke, Martina Bunge, ist es die Dahme. Um wie daheim in Wismar auch in den Berliner Sitzungswochen allmorgendlich unter freiem Himmel zu baden, nahm die Vorsitzende des Gesundheitsausschusses sogar eine Wohnung in Kauf, "die nicht ganz so toll ist", aber direkten Wasserzugang hat. Nun beginnt Bunge die Parlamentstage im Sommer wie im Winter mit einem Sprung in den Fluss im Südosten Berlins - allerdings verzichtet sie angesichts der Nachbarn auf hüllenloses Badevergnügen. "Ist halt nicht die Ostsee", erklärt sie mit unverhohlenem Bedauern in der Stimme. Auch den früheren schleswig-holsteinischen Umweltminister Rainder Steenblock, inzwischen unter anderem Sprecher der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen für Schifffahrt und Häfen, zieht es in den Sitzungswochen an den Fluss. Joggen an der Spree muss dann das Laufen am Deich ersetzen.
Anders als die Abgeordneten der Oppositionsfraktionen können die Nordlichter der Koalition ihre Meeressehnsucht in "Küstengangs" teilen. Dem Arbeitskreis Küste der CDU/CSU-Fraktion gehören rund 45 Abgeordnete aus Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen und Mecklenburg-Vorpommern an. "Wir treffen uns in den Sitzungswochen jeden Donnerstagvormittag", erzählt der Vorsitzende Wolfgang Börnsen (CDU). Mit unverhohlenem Stolz fügt er hinzu, dass es den Arbeitskreis schon seit fast 25 Jahren gibt. Er ist seit nunmehr zehn Jahren der Lotse des Arbeitskreises. Beim SPD-Pendant hat Margrit Wetzel die Lotsenmütze auf. Und ihre Kollegin Annette Faße ist als Berichterstatterin im Verkehrsausschuss für die Schifffahrt mit Herz und Seele mit von der Partie.
Im Moment geht es den Sozialdemokraten von Nord- und Ostsee um die Ausbildung von Seeleuten. Bei der jüngsten maritimen Konferenz - dem jährlichen Gipfeltreffen aller Meerespolitiker, -wissenschaftler und -wirtschaftskapitäne - "haben wir Rück-flaggungen erreicht, damit brauchen wir auch wieder mehr deutsche Seeleute", berichtet Faße. Das bedeute, dass die Länder, die für den schulischen Teil der Seeleute-Ausbildung zuständig sind, ihre Kapazitäten aufstocken müssten. "Hamburg etwa hat sich vollkommen verabschiedet", kritisiert die 58-Jährige, selbst Tochter eines Seemanns. "Wir wollen Hamburg motivieren, selber wieder auszubilden oder sich an der Ausbildung in anderen Ländern finanziell zu beteiligen", fügt sie hinzu. Schließlich steckten Bund und Reeder ihrerseits eine Menge Geld in das maritime Bündnis für Ausbildung.
Das zentrale Thema der "Küstengang" von der Union ist laut Börnsen zurzeit die Seesicherheit. "Stellen Sie sich einen Terrorangriff auf einen Chemietanker auf der Ostsee vor", sagt der 64-Jährige und schweigt einen Moment. "Das ist eine Riesengefahr", ist sich der kulturpolitische Sprecher seiner Fraktion sicher. Deshalb müsse es eine zentrale Gefahrenabwehr geben, in der Bundesgrenzschutz und Bundesmarine eingebunden sind, fordert er.
Meeressicherheit steht auf der Agenda von Rainder Steenblock ebenfalls ganz oben. Freilich buchstabiert der Grüne das Thema anders als sein CDU-Kollege: "Schutz der Küstenbevölkerung und klassischer Umweltschutz" seien von zentraler Bedeutung. Weiter erläutert der 58-Jährige, die Schiffe seien heutzutage zwar relativ umweltfreundlich, "fahren aber mit den dreckigsten Betriebsstoffen". Er fordert "Schiffe an die Steckdose", denn der Dieselverbrauch könnte deutlich reduziert werden - wenn beispielsweise Kühlaggregate in den Häfen aufgeladen würden.
Martina Bunge macht sich derweil Sorgen um die Fährunternehmen ihrer Heimat. Sollte, was sich abzeichnet, eine Brücke oder ein Tunnel in der Meerenge zwischen den Inseln Fehmarn (Deutschland) und Lolland (Dänemark) gebaut und damit die kürzeste Verbindungsstrecke der beiden Millionenstädte Hamburg und Kopenhagen hergestellt werden, habe sie "Angst, dass der Fährverkehr von und nach Mecklenburg-Vorpommern in Mitleidenschaft gezogen wird".
Hans-Michael Goldmann, schifffahrts- und hafenpolitischer Sprecher der FDP-Fraktion, freut sich dagegen gerade über einen Erfolg. Endlich habe die Bundesregierung ihren Widerstand gegen höhere Anforderungen für die geplanten neuen Notfallschlepper aufgegeben, sagt er. Immer wieder, zuletzt in einem Antrag im April, habe er darauf hingewiesen, dass die ursprünglich geplanten Schlepper angesichts des zunehmenden Schiffsverkehrs in Nord- und Ostsee mit immer größeren Schiffen zu langsam seien und eine zu geringe Schleppleistung hätten. "Ich freue mich, dass die Vernunft gesiegt hat und wir Ende Juni im Bundestag die neuen Anforderungen an die Notfallschlepper gemeinsam beschließen können", betont der 59-Jährige aus Papenburg.
Überhaupt gemeinsam. In Sachen Meer suchen die parlamentarischen Neptunjünger durchaus über Fraktionsgrenzen hinweg die enge Abstimmung mit Gleichgesinnten unter der Reichstagskuppel. Es gibt "interfraktionell ganz gute Kontakte", drückt sich Steenblock norddeutsch zurückhaltend aus. Dies sei auch nötig, denn "das Meer liegt im Bundestag nach meiner Auffassung häufig zu sehr am Rande", so der Ostfriese. "Wir müssen uns als Küste manchmal gemeinsam outen", wird Annette Faße da schon deutlicher. Der Bedeutung des Meeres als Wirtschafts- und Lebensraum könnte unter der Reichstagskuppel mehr Beachtung geschenkt werden.
Vielen Süddeutschen sei nicht bekannt, "wie wichtig es ist, dass wir gute Häfen und Werften haben", ergänzt Goldmann. Zwei Drittel der Wertschöpfung des Schiffsbaus würden beispielsweise im Binnenland erwirtschaftet. Um maritime Anliegen voranzubringen, gebe es, "auch schon mal Konflikte mit Kollegen aus Bayern", sagt Goldmann. Börnsen macht bei den Süddeutschen dagegen "eine stille Sehnsucht nach dem Meer" aus. Schon im Kaiserreich seien "die meisten Matrosen aus Bayern gekommen". Heute wisse er unter seinen CSU-Kollegen, etwa im Haushaltsausschuss, treue Unterstützer für Nord- und Ostseethemen. "Du kannst Dich auf Deine CSU-Kollegen verlassen", schwärmt der Flensburger in breitem Norddeutsch.
Auch bei Annette Faße ist die Herkunft bereits an der Sprache zu erkennen. "Ich kann dat gut verstohn, ick kann dat auch noch schnacken", unterstreicht sie und gibt auch gleich noch Nachhilfe in Platt. Wie der Fachbegriff für Telefon heiße? "Köterkasten", gibt sie selbst die Antwort und lacht. Sie wohnt noch immer in ihrem Geburtsort Imsum, "dem ersten Dorf nördlich von Bremerhaven, fünf Minuten hinterm Deich".
Direkt hinterm Deich, im ostfriesischen Dorf Ostgroßefehn, ist auch Rainder Steenblock aufgewachsen. Als Kind schaute er sehnsuchtsvoll den Torfschiffen auf dem Kanal hinterher. Heute blickt er beim Joggen manchmal melancholisch auf die Spree-Ausflugsschiffe. Er versuche, "immer regelmäßig ans Meer zu kommen, denn es ist etwas anderes, sich auf dem Deich den Wind um die Nase wehen zu lassen". Das Gefühl teilt er mit den anderen Nordlichtern in Berlin. Am Ende einer Sitzungswoche hält sie nichts mehr in der Hauptstadt. "Spätestens am Freitag muss ich wieder da sein", sagt Goldmann und schaut auf seine Nordseekarte.
Die Autorin ist Redakteurin der Wochenzeitung "Das Parlament".