Das Parlament: In den Tiefen des Ozeans regte sich etwas. Moleküle reckten und streckten sich". Hätten Sie nicht doch lieber einen "richtigen" Krimi geschrieben.
Frank Schätzing Nein, gar nicht. Es ging nicht darum, langweilige Fakten mit Tricks aufzupeppen. Ich finde das Thema hochgradig spannend, die Geschichte unseres Planeten hat in jeder Hinsicht Thrillerqualitäten. Mich erstaunt vielmehr, wie öde Naturwissenschaft mitunter vermittelt wird. Wie schafft man es, die Entwicklung des Lebens so schildern, dass sich der Beipackzettel einer Schachtel Valium dagegen liest wie Herr der Ringe?
Das Parlament: Das Leben entstand im Wasser. Sie beschreiben, wie sich in den Tiefen der Ozeane, an Vulkanschlünden erste organische Verbindungen entwickelten, klären uns auf über Eisensulfidbläschen, Eubakterien oder später über Tribolite. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie Ihre Berufswahl bereuen und lieber Chemiker oder Biologe geworden wären. Was also fasziniert Sie so an diesen Vorgängen da unten?
Frank Schätzing: Das Schöne an meinem Beruf ist: Ich kann die Welten wechseln. Mich eine ganze Weile mit einem Stoff beschäftigen, ihn, wenn man so will, auf fast akademischem Wege studieren, um mich gleich darauf Neuem zuzuwenden. Deswegen: Nein, ich bereue es nicht, kein Meeresbiologe geworden zu sein. Im Gegenteil. Ich genieße die Gnade der Außensicht. Schriftsteller sind wie Models. Unbekleidet und ungeschminkt, sprich ohne Thema, nicht sonderlich interessant. Dann ziehen sie sich eines an, tragen es in die Medien, stehen dafür. Zwei Jahre später tragen sie was anderes. Ich habe mich jetzt einige Jahre lang ausschließlich mit den Ozeanen beschäftigt und viel darüber gelernt. Allmählich werde ich neugierig auf neue Welten.
Das Parlament: Exotische Intelligenzen im Ozean, darum ging es im "Schwarm". Sind Sie gelangweilt von den Ergebnissen der Evolution auf dem Festland, also der Intelligenz, mit der wir Menschen es täglich zu tun haben.
Frank Schätzing: Gelangweilt nicht. Die Menschheit ist durchaus wert, dass man sich mit ihr befasst. Aber, um es drastisch zu sagen: Wir sind auch ziemlich selbstbesoffen und halten uns für die Krone der Schöpfung. Mich reizte einfach die Vorstellung, dass uns eine gleichwertige, wenn nicht sogar überlegene Rasse auf die Plätze verweist. Man stelle sich vor: Da gibt es noch ein anderes Kind, mit dem wir uns das Spielzimmer teilen müssen. Es kommt nicht aus dem All, sondern aus den Tiefen unserer eigenen Welt, und es ist möglicherweise sogar das meistgeliebte. Ich finde es wichtig, unseren Stellenwert von Zeit zu Zeit zu relativieren und zu fragen: Wie intelligent sind wir? Wohin gehören wir im Geflecht der Natur?
Das Parlament: Über 90 Prozent der gesamten Biosphäre findet sich in Ozeanen und Meeren und nur 0,1 Prozent davon wurden bisher untersucht. Sie berichten von einem gigantischen Forschungsprojekt, das nun Licht in dieses Dunkel der Tiefsee bringen soll. Mit dem Wissen und der Entschlüsselung stirbt jedoch das Mythologische.
Frank Schätzing: Das ist der Preis, den wir zahlen. Erkenntnis kann desillusionieren. Das Mysterium von Mittelerde verzaubert uns vor allem deshalb, weil es das Unerklärte, möglicherweise Unerklärliche zum Inhalt hat, das Fabeltier. Die Aufklärung hingegen tötet das mythologische Tier, sprich, unsere Phantasie. Ich schätze, das ist der Grund, warum die Menschen so auf die Meere und in die Tiefsee schauen: weil eben einige dieser grandiosen Ungeheuer darin noch zu Hause sein könnten, weil der Schatz unserer Phantasie immer noch ungeborgen am Meeresboden liegt, im Dunklen, Unerforschten, Unzugänglichen, wo er sicher ist. Platz für Wunder ist in den Ozeanen reichlich. Die Vielfalt des marinen Lebens verdankt sich ja unter anderem der Tatsache, dass Meere dreidimensionale Lebensräume sind. Wir bewohnen einen zweidimensionalen Raum, Länge mal Breite. Im Ozean addiert sich Tiefe, und wir erhalten einen gigantischen Kubus, bevölkert von was auch immer.
Das Parlament: Fremde Welten zu entdecken, bedeutete in der Vergangenheit jedoch allzu oft gleichzeitig deren Ausbeutung. Besteht die Gefahr?
Frank Schätzing: Das ist immer das Problem, klar. Am Anfang zählt vornehmlich der Entdeckergeist. Man möchte einfach Erkenntnisse erlangen. Viele der Pioniere sind im Grunde ihres Herzens Romantiker, gerade weil sie besessen sind von der Idee, es könnte irgendwo noch Gegenden geben, in denen die letzten Dinosaurier leben. Es ist prima, dass sie losziehen und zum Teil sogar finden, was sie suchen: Aber es birgt, fast als Automatismus, die Gefahr, dass die Ausbeuter das Kommando übernehmen und den neu entdeckten Lebensraum den Garaus machen. Wir suchen das Paradies, und wenn wir es gefunden haben, brennen wir es nieder. Eigentlich schaffen wir uns das, was uns verzaubert, so schnell es geht vom Hals.
Das Parlament: Aber dadurch verliert es eben seinen mythologischen Charakter. Sie haben es am Ende des Buches ja auch beschrieben, schreiben von diesen Bestrebungen der Kosmetik-Industrie….
Frank Schätzing: Was sollen wir machen? Es lässt sich nicht verhindern. Wir können nicht den Naturschutzpark Meere ausrufen und sagen: Ab sofort greifen wir nie wieder ein. Wir sind nun mal auf Wechselwirkung mit unserer Umwelt angewiesen. Also müssen wir uns verstärkt um Nachhaltigkeit bemühen. Es geht nicht darum, dass man nicht mehr fischen soll. Und wenn sich irgendwo in einem Schwamm ein Mittel gegen Krebs verbirgt, dann soll man das extrahieren. Aber wir müssen darauf achten, Ressourcen nicht auf eine Weise zu strapazieren, dass der Planet verarmt. Wir sind es letztlich, die dabei auf der Strecke bleiben. Hier muss ein grundsätzliches Umdenken stattfinden, über kurzfristige Interessen hinweg. Gewinnsucht wird immer die Ursache für das Verschwinden von Arten und Lebensräumen sein, leider aber auch Unkenntnis. Ich habe manchmal den Eindruck, dass manche Spitzenpolitiker und Wirtschaftsfachleute in Naturkunde nicht richtig aufgepasst haben, dass ein sehr großes Informationsdefizit über das tatsächliche Zusammenwirken einzelner Faktoren im Großen Ganzen besteht.
Das Parlament: Es scheint der Tiefsee jedenfalls ganz gut zu bekommen, unentdeckt und relativ unbeeinflusst vom Menschen zu sein: Gerade war zu lesen, dass sich die Fischpopulationen in 4.000 Metern Tiefe in den letzten 15 Jahren verdreifacht haben.
Frank Schätzing: Es wird immer gern vom Gleichgewicht der Natur gesprochen. Aber dieses Gleichgewicht existiert nicht, zumindest nicht so, wie sich das Romantiker gern vorstellen. Die haben einen Garten Eden vor Augen, den man einfach wieder herstellen muss. Sie vergessen, dass es den nie gegeben hat, sondern immer nur ein Streben nach einer ökologischen Bilanz. Das gilt auch für die Meere. Wenn wir die Oberfläche abschöpfen, hat das möglicherweise ganz andere Auswirkungen auf die Organismen der Tiefe, als wir annehmen. Mittlerweile ist auch die Tiefsee überfischt, andererseits sind unsere Kenntnisse über die Welt in 4.000 Meter Tiefe sehr begrenzt. Die Frage ist, welche Organismen in den Abyssalen überhand nehmen und welche Folgen das hat. Wir sollten uns an den Gedanken gewöhnen, dass die Verdreifachung gewisser Populationen nicht unbedingt zu unserem Nutzen sein muss. Ein schönes Beispiel liefern der Viktoriasee und der Viktoriabarsch, den man da ausgesetzt hat, um den Fischern eine bessere Existenz zu sichern. Das Resultat ist: Es gibt jetzt zwar jede Menge Viktoriabarsche im See, aber keine einzige andere Art mehr, weil der Viktoriabarsch alles weg gefressen hat. Das Nächste wird sein, dass der Viktoriabarsch verschwindet. Dass die Populationen in der Tiefsee so gesund sind, sich sogar vermehren, klingt gut. Ich habe aber den Verdacht, dass die Verschmutzung der Meere daran nicht unschuldig ist. Tiefseebewohner ernähren sich von dem, was von oben runtersegelt. Früher herrschte oben eine natürlich Bilanz. Was starb, trudelte abwärts, jeder knabberte mal dran, und irgendwann landete dann noch eine Schuppe ganz unten. Was das angeht, haben wir Löcher gerissen. Dafür sinken nun alle möglichen gesättigten Stoffe aus der chemischen Industrie ab, die durchaus für manche Arten verwertbar sind. So verändern sich als Folge unseres Eingreifens auch die Ökosysteme in den Abgründen, was wiederum Auswirkungen auf die Oberfläche hat. Niemand weiß, welche.
Das Parlament: Das Meer ist ja nicht gleich Meer, es gibt die milden Südseegewässer, es gibt Eismeere, es gibt den rauen Atlantikküsten: An welchen Küsten stehen Sie am liebsten?
Frank Schätzing: An sich schon eher an den nordischen, an den etwas raueren Küsten. Ich mag die zerklüfteten Landschaften, die Himmelsstimmungen, wie man sie im Süden nicht findet.
Das Parlament: Würden Sie sagen, dass jemand, der gern an schottischen Steilhängen sitzt ein anderes Verhältnis zum Meer hat als jemand, der es liebt am vollen Strand von Mallorca zu liegen?
Frank Schätzing: Das ist nicht vergleichbar. Ich glaube nicht, dass es die Liebe zum Meer ist, die Menschen an Massenstrände treibt. Man geht dorthin, weil man sich problemlos in die Sonne legen und ins Wasser gehen kann. Wenn ich in Irland an der Küste stehe und aufs Meer blicke und eine warme Jacke brauche, weil mir der Sturm um die Ohren pfeift, dann kann ich von Liebe zum Meer sprechen.
Das Parlament: In der Berichterstattung über die Tsunami-Katastrophe in Asien hatte man den Eindruck, dass die Erde als eine Art Feind betrachtet wird, die den Menschen Böses antut.
Frank Schätzing: Wir empfinden uns nicht mehr als Teil der Natur. Wir sprechen von Natur und Mensch. Eine ziemlich kranke Sicht der Dinge! Wir sind ein Teil der Natur! Aber in den Medien präsentierte sich die Natur als Feind, heimtückisch und zerstörerisch. Natürlich sind die Auswirkungen des Tsunamis für die Betroffen katastrophal! Aber grundsätzlich ist der Begriff Naturkatastrophe falsch, weil er impliziert: Hier hat sich die Erde daneben benommen, wie es einem zivilisierten Planeten nicht geziemt. Mit wachsender medialer Informationsdichte scheint unser grundlegendes Weltverständnis rapide zu schwinden. Betrachtet man die größeren Zusammenhänge, erkennt und sieht man: Vulkanausbrüche und Tsunamies sind natürliche, immer wieder auftretende Phänomene, ungefähr so, wenn es uns hier und da mal juckt und wir uns kratzen. Auch die Erde kratzt sich, muss sich recken und strecken, sie ist ja in ständiger Bewegung. Andernfalls würde sie platzen. Nur, wenn zwei, drei Menschheitsgenerationen lang ein Phänomen ausgeblieben ist, neigen wir dazu, es zu negieren oder so zu tun, als gehörte es in eine graue Vorzeit. Wenn es dann auftritt, reiben wir uns die Augen und verhalten uns so, als wäre das absolut Undenkbare eingetreten. Viele Politiker haben es damals so formuliert: Das Undenkbare sei eingetreten. Und da muss man denen schon den Vorwurf machen und sagen: Leute, hättet ihr besser aufgepasst, wäre es nicht undenkbar gewesen. Dann hättet ihr gewusst, das wird wiederkommen.
Das Interview führte Claudia Heine.
Frank Schätzing: Nachrichten aus einem anderen Universum. Eine Zeitreise durch die Meere. Kiepenheuer & Witsch, Frankfurt 2006; 522 S., 19,90 Euro
Frank Schätzing: Der Schwarm. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt 2005, 956 S., 9,90 Euro