Während Europa noch über Globalisierung und ihre wirtschafts- und sozialpolitischen Auswirkungen sowie mögliche Reformen debattiert, entsteht zwischen Russland und China ein neuer Kulturraum, der auch die Mongolei umfasst. Grund genug für den freien Journalisten Kai Ehlers diese Region einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Sein neues Buch liefert sowohl aktuelle Reiseeindrücke dieser weitgehend unbekannten Region, als auch vertiefende politische Analyse. Hier kann Ehlers vor allem auf Gesprächsprotokolle mit mongolischen, chinesischen und russischen Wissenschaftlern zurück-greifen sowie auf Konferenzprotokolle eines von ihm initiierten Forschungsprojekts, in das auch kasachische und japanische Wissenschaftler involviert sind.
Der Begriff "Inneres Asien" geht auf den Namen eines Institutes im russischen Irkutsk zurück, dass seit 2003 die Migration im asiatischen Teil Russlands er-forscht. Ökonomisch erweist sich diese Region als äußerst aktiv. Einen wichtigen Faktor bildet dabei der Faktor Migration. So leisten etwa die chinesischen und mongolischen Billighändler, die so genannten "Tschelnoks" einen wichtigen Beitrag zur Versorgung des ärmeren sibirischen Bevölkerungsteils. Deutlich wird dies in der Schilderung der beiden Nachbarstädte Blagoweschtschensk auf russischer und Che Che auf chinesischer Seite. Als Mitte der 90er-Jahre vorübergehend ein Visumzwang für Chinesen eingeführt wurde, sank die Versorgungslage auf russischer Seite auf das Niveau von Mitte der 80er-Jahre. Aber auch die Bauwirtschaft Sibiriens und Teile der dortigen Landwirtschaft wären ohne den Zustrom von Gastarbeitern schon lange nicht mehr lebensfähig.
Wladimer Putins bekundetes Interesse an Einwandern jeglicher Art entspricht angesichts einer stetig schrumpfenden Bevölkerung durchaus russischen In-teressen. Der wachsende Chauvinismus in Russland hat jedoch, wie Ehlers belegt, noch keine demografische Grundlage. Denn das auch von einigen Moskauer Wissenschaftlern beschworene Gespenst der "Gelben Gefahr" von bis zu sechs Millionen illegalen chinesischen Einwanderern werde von seriösen Forschern aus der Region widerlegt. So erreiche die tatsächliche Einwanderungszahl der Chinesen bisher noch nicht einmal eine halbe Million, das sind weniger als ein halbes Prozent der 21 Millionen Einwohner Sibiriens.
In einigen Teilbereichen seien Russlands Perspektiven sogar langfristig günstiger als Chinas, das durch seine Ein-Kind-Politik in wenigen Jahrzehnten Lösungskonzepte für einen großen Bevölkerungsanteil alter Menschen finden müsse, während Russlands Bevölkerung in ähnlichem Tempo schrumpfe wie im übrigen Europa. Zudem lebten 60 Prozent der russischen Bevölkerung vom eigenen Stück Land oder Garten, was, so Ehlers, auch ökologisch sinnvoller sei, als die einseitig auf Industrialisierung setzende Strategie Chinas.
Eine wichtige und nützliche Rolle erblickt Ehlers in dem menschenarmen Flächenstaat Mongolei. Diese nehme einerseits als Pufferstaat zwischen Russland und China eine wichtige Brückenfunktion ein. Andererseits könne ihre durch das Nomadentum geprägte Ökonomie als ein umweltschonendes Modell empfohlen werden. Die Nomadenvölker kämen zudem sehr leicht in Kontakt mit anderen Zivilisationen und seien stets offen für deren Kulturen. Ihre wirtschaftliche Interessen seien stets spirituellen und moralischen Werten untergeordnet. Die Kultur der Mongolei bilde daher eine Art Gegenentwurf zur Globalisierung. Diese Meinung untermauert Ehlers mit ausführlichen Interviews mit Agrar- und Sozialwissenschaftlern aus der Region.
Die Hauptthese des Buches lautet, dass der entste-hende Wirtschafts- und Kulturraum "Inneres Asien" seine Möglichkeiten als wirtschaftlich prosperierende und multikulturell befriedete Region nur erhalten kann, wenn die westliche Welt dieser Region erhöhte Aufmerksamkeit schenkt und ihre Entwicklungspolitik "durch eine nachhaltig orientierte Strategie" darauf einstellt. Die Perspektiven dafür beurteilt der Autor allerdings eher skeptisch und spricht vom "expandierendem Chaos aus Europa". Die Europäer hätten nach der EU-Osterweiterung kein einheitliches sozio-ökonomisches Niveau erreicht. Zudem könnten sie sich nicht entscheiden zwischen einer eigenen Außenpolitik und der Globalpolitik der USA.
Noch pessimistischer beurteilt Ehlers die Rolle der USA. Als deren einziger Vertreter wird Zbigniew Brzezinski zitiert, der von einer "Hegemonie neuen Typs" in Eurasien, durch die USA spricht und Russland allenfalls eine Statistenrolle zugestehen will. Noch ganz im Denken des Kalten Krieges gefangen, möchte der ehemalige Sicherheiterberater von Jimmy Carter, Putins Staat gleich dreifach eindämmen: Im Westen durch die NATO- und EU-Erweiterung, im Osten durch einen Block aus Japan, Korea und Taiwan und schließlich im Süden - "am Bauch Russlands" - durch einen "Eurasischen Balkan", der so heterogene Staaten wie die Ukraine und Usbekistan umfasst. Es hätte jedoch den Informationsgehalt des lesenwerten Buches noch gesteigert, wenn auch andere außenpolitische Experten der USA zu Wort gekommen wären. So wirkt die Darstellung an dieser Stelle zwar pointiert, aber nicht ausreichend für ein abschließendes Urteil.
Insgesamt jedoch bietet Ehlers Publikation einen ak-tuellen und zugleich fundierten Einblick in den Kul-turraum "Inneres Asien", der besonders durch die ge-lungene Analyse von Reisebericht und politischer Analyse besticht und zu weiteren Studien motiviert.
Kai Ehlers: Asiens Sprung in die Gegenwart. Russland-China-Mongolei. Die Entwicklung eines Kulturraums "Inneres Asien". Pforte Verlag, Dornach 2006; 116 S., 9 Euro.