Das Parlament: Wie würden Sie zurzeit den völkerrechtlichen Status Taiwans definieren?
Ma Ying-jeou: Nach allen Rechtsurkunden entsprechend dem Völkerrecht ist unbestreitbar, dass Taiwans Status der ist, dass es unter der Regierungsgewalt der Republik China steht. Die Republik China auf Taiwan mag in der internationalen Arena ihre Schwierigkeiten haben, aber sie bildet unbestreitbar eine handelnde souveräne Einheit und spielt in der internationalen Gemeinschaft mit.
Das Parlament: Die Regierung der Volksrepublik China besteht noch immer darauf, dass Taiwan eine "abtrünnige Provinz" ist. Wie gehen Sie mit dieser politischen Linie um, von der Peking sagt, dass sie fundamentale Bedeutung habe?
Ma Ying-jeou: Beide Seiten der Straße von Taiwan haben die mittlerweile bekannte "Übereinkunft von 1992" über die "Ein-China"-Frage getroffen, die besagt: "Ein China, unterschiedliche Auslegungen". Für uns bedeutet "Ein China": Die Republik China und Taiwan sind Teil der Republik China. Im April vergangenen Jahres machte Lien Chan, damals der Vorsitzende der KMT, eine historische Friedensreise nach Festland-China. In Peking kamen die KMT und die Kommunistische Partei China (KPCh) zu fünf Punkten einer "gemeinsamen Vision". Erstens: Vorantreiben der Wiederaufnahme von Konsultationen über die Wasserstraße hinweg und Förderung des Wohlergehens der Menschen auf beiden Seiten der Wasserstraße gemäss der Übereinkunft von 1992. Zweitens: Hilfe zur Beendigung der Feindseligkeiten zu Erreichung eines Friedensabkommens, einschließlich vertrauensbildender Maßnahmen im militärischen Bereich. Drittens: Förderung umfassender wirtschaftlicher Zusammenarbeit über die Wasserstraße hinweg, die letztlich zu einem gemeinsamen Markt führt. Viertens: Unterstützung für den Austausch von Ansichten zu Taiwans Teilnahme an internationalen Aktivitäten. Fünftens: Einrichtung einer Plattform für Beratungen von Partei zu Partei. Während des zweiten Treffens von Lien Chan und Hu Jintao im April 2006 rief letzterer die "Übereinkunft von 1992" in Erinnerung und interpretierte sie als "Suchen nach Gemeinsamkeiten und Vertagen von Meinungsverschiedenheiten" und als "Gespräche über Gleichheit führen". Alles in allem nimmt Peking eine flexiblere und differenziertere Haltung zu Taiwan ein. Es ist klar, dass wir angemessen reagieren müssen.
Das Parlament: Wie groß ist die Bedrohung durch das in der Volksrepublik China im März 2005 verabschiedete "Anti-Abspaltungsgesetz"? Schließlich hat sich Peking mit diesem Gesetz eine förmliche Rechtfertigung geschaffen, jegliche Schritte Taiwans in Richtung Unabhängigkeit mit Gewalt zu verhindern.
Ma Ying-jeou: Das "Anti-Abspaltungsgesetz" ist der Verbesserung der beiderseitigen Beziehungen natürlich nicht förderlich. Die Kuomintang (KMT) ist gegen dieses Gesetz - aus anderen Gründen als die Regierung der Democratic Progressive Party (DPP). Wir meinen, es ist überflüssig und unklug. Die Volksrepublik braucht ein solches Gesetz nicht, um auf Taiwan einzumarschieren. Sie könnte das jederzeit auch ohne Gesetz tun. Ein solches Gesetz zu erlassen, musste natürlich bei allen politischen Parteien in Taiwan heftige Reaktionen hervorrufen - unangeachtet ihrer Haltung zum zukünftigen Status Taiwans. Und genau das passierte in Taiwan, nachdem der Volkskongress das Gesetz am 14. März 2005 verkündete. Wir sind gegen die so genannte Unabhängigkeit Taiwans. Die KMT ist zuversichtlich, dass beide Seiten der Taiwan-Straße ihre Meinungsverschiedenheiten mit friedlichen Mitteln regeln können, so lange der Status quo der Straße von Taiwan intakt bleibt. Die KMT wird danach streben, Frieden, Wohlstand, Demokratie und eine gerechte Verteilung von Wohlstand über die Taiwan-Straße hinweg zu erreichen - eine Situation, von der beide Seiten profitieren.
Das Parlament: Im Frühjahr sagte Chen Shui-bian, seiner Meinung nach brauche Taiwan eine neue Verfassung, eine die zeitgemäß und anwendbar sein sollte. Aber er räumte ein, dass eine solche Reform oder Änderung der Verfassung ein sehr schwieriges politisches Vorhaben wäre, weil es auch empfindliche Fragen der Souveränität - wie etwa den Staatsnamen, die Flagge und das Staatsterritorium berühren würde. Und das würde Taiwans Zukunft von vornherein festlegen. Aber laut Chen Shui-bian müsse die Zeit für das Projekt reifen und es benötige die Unterstützung der Bevölkerung und des Parlaments. Stimmen Sie in diesem Punkt Chen Shui-bian zu? Und wenn ja, wann wird das so weit sein?
Ma Ying-jeou: Nein, absolut nicht. Die Verfassung der Republik China (ROC) wurde in den vergangenen 15 Jahren schon siebenmal geändert, zuletzt im Mai 2005. Die Regierung hatte noch nicht einmal die Zeit, die letzten Änderungen umzusetzen. So wurde zum Beispiel 2005 eine Verfassungsänderung angenommen, mit der die Gesamtzahl der Abgeordnetensitze halbiert wird. Aber die zugehörigen Gesetze und Verordnungen wurden noch nicht angenommen. Jetzt wollen einige DPP-Politiker die Zahl der Sitze aus ganz persönlichem Interesse wieder erhöhen! Tatsächlich ist die öffentliche Unterstützung für Änderungen der Verfassung oder für irgendeine andere Gesetzesänderung sehr gering. Zurzeit unterstützt die Mehrheit der Parlamentarier die Pläne von Präsident Chen nicht. Und weil jede Verfassungsänderung mit einem Vorschlag des Legislativen Yuan (das Parlament, d. Red.) beginnen muss, der von einem Viertel aller Parlamentarier unterstützt und mit der Zustimmung von Drei-Viertel aller Stimmen angenommen werden muss, sind die Chancen einer Verabschiedung minimal, wenn sie nicht gar unmöglich ist. Selbst wenn der Vorschlag angenommen wird, muss er die Mehrheit der Stimmen in einem Referendum erreichen, das sechs Monate nach der Verabschiedung der Verfassungsänderung durch den Legislativ-Yuan abgehalten wird. Das ist noch schwieriger, wie der Fehlschlag zweier ähnlicher Volksentscheide im März 2004 gezeigt hat. Wir, die KMT, haben immer betont, die Ausführung der Verfassung ist gegenwärtig viel wichtiger als weitere Änderungen. Andererseits wollte Präsident Chen eigentlich eine neue Verfassung schreiben, um seinen Traum von der Taiwan-Unabhängigkeit zu verfolgen - eine extrem gefährliche politische Linie für Taiwan und die regionale Stabilität insgesamt. Deshalb glaube ich nicht, dass Präsident Chens Wunsch irgendwann in Erfüllung gehen wird.
Das Parlament: Begreifen Sie sich selbst als Chinesen oder als Taiwaner? Und wie ist das bei der Mehrheit Ihrer Bevölkerung?
Ma Ying-jeou: Ich bin Taiwaner und Chinese, so wie man in Deutschland Bayer und Deutscher zugleich sein kann. Viele Menschen in Taiwan denken so wie ich.
Das Parlament: Wie sicher können Sie sich auf die Unterstützung der USA im Falle irgendwelcher militärischer Aktionen der Volksrepublik China gegen Taiwan verlassen?
Ma Ying-jeou: Ich bin denke, dass unsere Fähigkeiten glaubwürdiger Verteidigung im Falle eines militärischen Angriffs durch Festland-China für Taiwan wichtig sind. US-Präsidenten haben erklärt, dass die Vereinigten Staaten Taiwan helfen werden, sich zu verteidigen - in Übereinstimmung mit dem "Taiwan Relations Act", einem amerikanischen Gesetz, das seit 1979 in Kraft ist. Und die USA sind der Hauptlieferant von Waffensystemen und militärischer Ausstattung für die Republik China. Ich vertraue darauf, dass die USA weiterhin eine Sicherheitsrolle spielen werden, um in der Straße von Taiwan Frieden zu erhalten. Wir in Taiwan sollten natürlich einen starken Willen demons-trieren, uns im Falle einer solchen Eventualität zu verteidigen. Andererseits sollte Taiwan weder durch Worte noch Taten einen Konflikt oder eine Konfrontation in der Straße von Taiwan provozieren. Wir sollten als verantwortungsbewusste Teilhaber in der Region handeln. Wir sollten als Friedensstifter handeln, nicht als ein Unruhestifter. So lange wir auf einer solchen Politik beharren und unsere Beziehungen zu Festlandchina weiter verbessern, ist die Wahrscheinlichkeit von Feindseligkeiten in der Straße von Taiwan eher minimal. Unterdessen würde als ein Ergebnis unserer Politik gegenüber dem Festland und in der Region die US-Sicherheitsrolle leichter werden.
Das Parlament: Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Insel und dem Festland werden immer enger. Geschäftsleute aus Taiwan investieren und produzieren in der Volksrepublik. Heißt das nicht, dass der politische Zusammenschluss unausweichlich folgen wird - auf lange Sicht zumindest?
Ma Ying-jeou: Man kann nicht bestreiten, dass die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Taiwan und Festland-China immer enger werden, aber politische Integration ist eine ganz andere Sache. Nach den "Richtlinien für die nationale Wiedervereinigung", die der Nationale Rat für die Vereinigung 1992 angenommen hat, wird Vereinigung als langfristiges Ziel ohne vorgegebenen Zeitrahmen aufgeführt. Es zu erreichen, braucht es vielleicht mehrere Generationen und ist in großem Maße abhängig davon, ob die vielen notwendigen Voraussetzungen erfüllt sind. Das bedeutet, es wird nur dann möglich sein, wenn Festland-China frei und demokratisch ist sowie eine gerechte Verteilung des Wohlstands in seiner Gesellschaft erreicht hat. Und die endgültige Entscheidung über eine politische Vereinigung muss mit Zustimmung der taiwanischen Bevölkerung getroffen werden. Deshalb glauben wir, dass in dieser Phase beide Seiten bestrebt sein sollten, sich durch erweiterten wirtschaftlichen und kulturellen Austausch besser zu verstehen, ohne die Frage der Vereinigung anzurühren. Das ist es auch, warum ein Friedensabkommen zwischen beiden Seiten der Straße von Taiwan für - sagen wir einmal 30 bis 50 Jahre - absolut erforderlich ist, um den Status quo aufrechtzuerhalten und den nötigen Austausch zu betreiben, ehe irgendeine politische Integration stattfinden kann.
Das Parlament: Die Volksrepublik China wächst wirtschaftlich unaufhörlich und wird politisch wie auch militärisch immer mächtiger. Bedeutet das nicht, dass die Zeit gegen Taiwan und den Erhalt des Status quos läuft - ganz zu schweigen von einer dauerhaften politischen Isolation des Landes?
Ma Ying-jeou: Es ist gut, dass sich die Wirtschaft Festland-Chinas in den vergangenen Jahren rasant entwickelt hat, was bedeutet, dass sich gleichzeitig der Lebensstandard der Bevölkerung in FestlandChina verbessert hat. Währenddessen steigt aber auch der Militäretat von Festlandchina jedes Jahr rapide. Es ist uns vollkommen klar, dass Taiwan glaubwürdige Verteidigungskapazitäten braucht. Zugleich sind wir durch den Austausch zwischen KMT und der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) zuversichtlich, dass beide Seiten der Straße von Taiwan zusammen mit den USA nicht wollen, dass eine Seite den Status quo einseitig ändert - etwa mit der Deklaration einer "de jure"-Unabhängigkeit durch Taiwan oder einer bewaffneten Invasion Taiwans durch Festland-China. Westlichen Beobachtern entgeht zumeist ein wichtiger Aspekt: Wie unvollkommen unsere Demokratie auch ist; das demokratische Leben in Taiwan hat - besser als das jeden anderen Landes - Auswirkungen auf die Zukunft Chinas. Man kann das "Leuchtturm-Effekt" nennen. Wie dem auch sei, ich glaube, die Zeit ist auf unserer Seite, der Seite, die Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und die Herrschaft des Rechts wertschätzt. Unterdessen wird das chinesische Festland wohlhabender; es entsteht dort natürlich eine wachsende Mittelklasse, die nach und nach mehr Freiheit fordert - nicht nur im wirtschaftlichen Leben, sondern auch im politischen Entscheidungsprozess und bei der Auswahl öffentlicher Führungskräfte. Das ist so insbesondere im Zeitalter des Internets, in dem Informationen jede Gesellschaft durchdringen können - trotz Zensur und Behinderung durch die Behörden.
Das Parlament: Was erwarten Sie von der deutschen Regierung?
Ma Ying-jeou: China und Deutschland wurden nach dem Zweiten Weltkrieg beide geteilt. China ist immer noch geteilt. Deutschland und die Republik China sind beides freie und demokratische Länder. Wir brauchen das Verständnis und die Unterstützung für unsere Politik, den Status quo aufrechtzuerhalten und die Beziehungen zu Festland-China auf der Grundlage der Übereinkunft von 1992 zu verbessern. Unterdessen hoffen wir, dass Deutschland uns an seiner wertvollen Erfahrung mit der deutschen Integration teilhaben lässt. Ich denke, das wäre für beide Seiten der Straße von Taiwan bei ihrem Streben nach Frieden und Wohlstand von Nutzen.