Den Hintergrund dieses Szenarios bilden Koizumis Besuche im umstrittenen Yasukuni-Schrein und die im September anstehende Neuwahl des Vorsitzenden der Hauptregierungspartei Japans, der konservativen Liberaldemokratischen Partei (LDP), die dank ihrer großen Mehrheit im maßgeblichen Unterhaus auch den nächsten Regierungschef stellen wird. Der seit April 2001 amtierende Koizumi hatte nach dem großen Erfolg seiner Partei bei den Unterhauswahlen vom September 2005 angekündigt, mit dem Ablauf seiner Amtszeit als LDP-Chef auch als Ministerpräsident abtreten zu wollen. Doch ist zu befürchten, dass Koizumi vor seinem Abgang ein im Frühjahr 2001 abgegebenes Versprechen wenigstens einmal wortwörtlich erfüllen will - den Yasukuni-Schrein genau am 15. August zu besuchen. Das ist der Jahrestag der Kapitulation Japans im Zweiten Weltkrieg, als der damalige Tenno - Kaiser Hirohito, posthum Showa Tenno genannt - die Japaner in einer Rundfunkansprache aufforderte, ihre Waffen niederzulegen und "das Unerträgliche zu ertragen". 2001 ließ sich Koizumi überreden, den Besuch des Shinto-Schreins, in dem die Seelen von rund zweieinhalb Millionen Kriegstoten verehrt werden, um zwei Tage - auf den 13. August - vorzuverlegen; vier weitere Besuche als Regierungschef erfolgten in anderen Monaten.
Sollte Koizumi den Schrein vor seinem Abgang wirklich noch einmal aufsuchen, wäre das für die Chinesen eine Provokation. Denn im Yasukuni-Schrein werden auch die Seelen von 14 Japanern verehrt, die 1948 in Tokio als Hauptkriegsverbrecher der Klasse A (Verbrechen gegen den Frieden) zum Tode oder zu lebenslanger Haft verurteilt worden waren, allen voran der Kriegspremier und General Hideki Tojo. Unter allen Kriegsgegnern Japans musste China im asiatisch-pazifischen Teil des Zweiten Weltkriegs - der dort schon im Juli 1937 mit der Besetzung von Peking begann - die meisten Opfer bringen und die größten Schäden erleiden. Unvergessen wegen besonderer Grausamkeit sind das "Große Massaker von Nanking" und die bestialischen Menschenversuche der berüchtigten "Einheit 731" in der besetzten Mandschurei. Japans Justiz hat es bis heute nicht für nötig befunden, gegen Japaner wegen Kriegsverbrechen auch nur zu ermitteln.
Der Yasukuni-Schrein ist auch als Symbol des japanischen Militarismus vorbelastet. Er stand bis 1945 unter militärischer Verwaltung und war ein Hort des religiös-überhöhten Kaiserkults. Weil die Besatzungsbehörden staatliche Beziehungen zum Shintoismus untersagten, musste der Schrein sich als private Religionsgemeinschaft reorganisieren. Aber der alte Geist ist nicht spurlos untergegangen. Das "Yushukan"-Museum auf dem Schreingelände verherrliche Japans Militarismus und stelle den Krieg so dar, als hätte Japan ihn gewonnen, meinte Tsuneo Watanabe, Chef der Yomiuri Shimbun, der größten Tageszeitung Japans, in einem Aufsehen erregenden Dialog mit Chefkommentator Yoshibumi Wakamiya von der Asahi Shimbun, der zweitgrößten Zeitung des Landes. In seltener Einmütigkeit forderten die Sprecher der zwei Konkurrenzblätter Koizumi auf, Besuche im Yasukuni-Schrein zu unterlassen; das gelte auch für seinen Nachfolger. Koizumi ist kein rechter Revisionist, der zum Yasukuni-Schrein pilgert, um den Klasse-A-Kriegsverbrechern Reverenz zu erweisen. Er hat sich auch ehrlich für das den asiatischen Nachbarländern von Japan zugefügte Leid entschuldigt. Problematisch an seinen Schreinbesuchen sei aber, findet Asahi Shimbun-Kommentator Wakamiya, dass sie im Ergebnis jenen Kreisen helfen, die den Krieg ähnlich sehen wie das Yushukan-Museum des Yasukuni-Schreins.
Problematisch sind auch Koizumis Prioritäten, wenn es um die Leiden der Opfer von Japans Militarismus und die des eigenen Volkes geht. Vor Jahren hat er Chiran in Südjapan besucht. Dort starteten in der Endphase des Krieges die "Kamikaze"-Flieger zu ihren Selbstmord-Missionen gegen Kriegsschiffe der Alliierten. Offenbar hat die Gedenkstätte in Chiran
Koizumi tief bewegt. Der Gedanke an die Männer, die als Kamikaze-Flieger ihr Leben opfern mussten, habe Koizumi zu Tränen gerührt, sagt Wakamiya.
Die eigenen Wunden zu lecken, ist sicher auch für Täter zulässig, wenn sie zuvor der Opferseite gedacht und ihr einen Ausgleich für zugefügtes Unrecht gewährt haben. Aus chinesischer Sicht kann davon kaum die Rede sein. Japan hat zwar an sechs südostasiatische Staaten Reparationen geleistet, aber nicht an die Hauptopferländer China und Korea. Beide waren 1951 auch nicht an den Verhandlungen über den Friedensvertrag mit Japan in San Francisco beteiligt. Taiwan ("Nationalchina"), die Volksrepublik China und Südkorea bekamen nur "Wirtschaftshilfe", wenn auch in zum Teil beträchtlicher Höhe. Gegenüber China entzog sich Japan mit formalrechtlichen Gründen allen Ansprüchen: Schon 1952 habe China als Staat rechtswirksam auf Reparationen verzichtet, machte Tokio 1972 bei der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Volksrepublik erfolgreich geltend, und bezog sich auf den von Tschiang Kai-shek ausgesprochenen Anspruchsverzicht, der 1952 auch in einem Vertrag mit der "Republik China" (Nationalchina) festgeschrieben wurde.
Der vor den Kommunisten nach Taiwan geflohene Generalissimus wollte Japan im Machtkampf mit Mao Zedong auf seiner Seite haben. Aufschlussreich sind auch die Worte, mit denen sich im September 1972 Japans damaliger Ministerpräsident Kakuei Tanaka in Peking, entschuldigte: "Ich möchte... meine tiefe Reue für die großen und zahlreichen Unannehmlichkeiten zum Ausdruck bringen, die unser Land dem chinesischen Volk in den vergangenen Jahrzehnten zugefügt hat." Unannehmlichkeiten! Tanaka hat das Wort wirklich so benutzt.
Tag für Tag wächst das wirtschaftliche, politische und militärische Gewicht der Volksrepublik. Aber es ist nicht zwingend, dass Japan und China wieder Feinde werden müssen. Doch wenn es um die Kriegsvergangenheit geht, ist der Graben noch tief. Ohne eine echte Aussöhnung über die Vergangenheit wird es keine vertrauensvolle Zusammenarbeit geben. Dabei ist Japan zuerst am Zug. Eine Chance bietet sich im September. Einer der zwei Spitzenkandidaten für die Wahl des Nachfolgers von Koizumi nimmt die verletzten Gefühle der Chinesen ernst und will Abhilfe schaffen: Yasuo Fukuda, ältester Sohn des früheren Regierungschefs Takeo Fukuda, der 1978 mit China einen "Friedens- und Freundschaftsvertrag" abgeschlossen hatte, hat als Minister im ersten Koizumi-Kabinett ein "privates" Beratungsgremium berufen, das sich dafür aussprach, eine neue, nicht-religiöse Gedenkstätte für Japans Kriegstote zu errichten. Als Ministerpräsident könnte Fukuda junior die Empfehlung umsetzen.
Für eine Alternative zum Yasukuni-Schrein setzen sich auch Stimmen aus der Wirtschaft ein, die normalerweise der LDP zugetan und mit öffentlicher Kritik eher zurückhaltend sind. Die Managervereinigung "Keizai Doyukai" hat Anfang Mai die Regierung in einer schriftlichen Erklärung aufgefordert, ihre Besuche im Yasukuni-Schrein zu überprüfen und die Errichtung einer alternativen Gedenkstätte für die Kriegstoten zu erwägen. Wenig später sprach sich der neue Präsident des Industrieverbands "Nippon Keidanren", Fujio Mitarai, dafür aus, die Probleme mit China wegen der Besuche im Yasukuni-Schrein so schnell wie möglich zu lösen. Welchen Stellenwert solche, von Sorge um die Zukunft der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen getragenen Stimmen haben, wird sich zeigen, wenn über Koizumis Nachfolge entschieden wird.
Der Autor ist Journalist und war langjähriger Korrespondent der "Süddeutschen Zeitung" in Japan.