China - ein Mythos für Europa? Als Marco Polo im venezianischen Verlies seine Reiseerinnerungen diktierte, legte er das Fundament dafür. Teile seines Berichts, die der Wirklichkeit am nächsten waren, glaubte man ihm nicht; seine Geschichten von Fabelwesen und Wundermenschen nahm man gerne für bare Münze. Das war im 13. Jahrhundert. Aber sind unsere Vorstellungen von China heute wirklich schon ein zutreffendes Abbild der Wirklichkeit? Gewiss, wir lesen sachliche Korrespondentenberichte, sehen kritische Fernsehdokumentationen über das Land. Wir haben die Daten über Wirtschaftswachstum und Handelsbilanzen zur Verfügung. Und lösen nicht genau diese nüchternen Zahlen Emotionen aus? Hoffnungen auf immense Gewinne auf dem riesigen Markt mit mehr als einer Milliarde Kunden oder Furcht vor erdrückender Konkurrenz auf nahezu allen Märkten, Angst um Arbeitsplätze? Viel von dem, was wir über China erfahren, möchten wir glauben. Anderes möchten wir nicht wahrhaben - und sei es noch so zutreffend. Fast wie zu Marco Polos Zeiten. Da hat sich wenig geändert, weil es menschlich ist, an Märchen zu glauben. Riskant wird es nur, wenn solcher Glaube das Handeln bestimmt. Dabei ist es spannend und aufregend genug, das China von heute möglichst präzise zu analysieren - eine schier unendliche Aufgabe mit vielen Aspekten. Das Verhältnis Chinas zu seinen Nachbarn ist einer davon.
Der Blick ist also gerichtet aus dem Reich der Mitte hinaus auf seine nähere und fernere Umgebung - und einmal nicht vor allem in die Volksrepublik hinein, auf ihre wirtschaftlichen Erfolge und Probleme wie Menschenrechtslage, Korruption und Umweltzerstörung. Dabei ist klar, dass die innenpolitische Lage des Landes das außenpolitische Agieren wesentlich mitbestimmt. Die herausragende ungelöste politische Aufgabe für China ist das Taiwan-Problem. Für die Pekinger Regierung ist "die Taiwan-Frage eine innere Angelegenheit Chinas", wie dem Verfasser schriftlich bedeutet wurde. Aber auch ausländische Politiker, die an der "Ein-China-Politik" strikt festhalten, sind besorgt darüber, dass der Taiwan-Konflikt internationale Verwicklungen auslösen könnte, deren Folgen für die ganze Region verheerend wären. Dabei darf man nicht übersehen, wie schnell Taiwan bei Chinesen mit Emotionen verknüpft werden kann: Im Zeitalter von Imperialismus und Kolonialismus besetzten und beherrschten Fremde Teile ihres Landes. Das wird als eine lange Phase der Schwäche empfunden. Sie ist überwunden. Die ausländischen Besatzer haben das Land längst verlassen und Hongkong und Macau zurückgegeben. Nur Taiwan fehlt noch in den Augen Pekings, damit endlich ganz China wiedervereint ist - in der Volksrepublik. Es ist im Interesse aller Beteiligten, dass dieser Konflikt ohne Gewalt gelöst wird. DDie bereits enge wirtschaftliche Verflechtung der Insel mit der Volksrepublik und die beachtlichen Investitionen der Taiwaner dort sind zusätzlicher Schutz vor Gewalt.
Wirtschaftliche Interessen bestimmen immer stärker auch das Verhältnis Chinas zu seinen 15 Nachbarstaaten. Nach dem schnellen und ungebremsten Heranwachsen zu einer starken Wirtschaftsmacht wird das Land von seinen Nachbarn mittlerweile misstrauisch beobachtet, weil man sich vor einer wirtschaftlichen und politischen Hegemonie der Chinesen fürchtet. Auch Länder wie Russland und Indien sind nicht mehr nur politische Rivalen, sondern auch wirtschaftliche Konkurrenten Chinas. Wachsende Stärke geht mit größerer Verantwortung einher. Das muss der Pekinger Führung bewusster werden - zu ihrem eigenen Vorteil und zum Nutzen ihrer Nachbarn. Und Nachbarn in der globalisierten Welt sind wir fast alle.
Der Autor ist Diplomatischer Korrespondent für Asien und die Islamische Welt, Deutsche Welle, Berlin.