Der Titel eines Buchs von Nobelpreisträger Vidiadhar S. Naipaul lautet „Indien – eine Million Aufstände“. Drei Faktoren begründen die Richtigkeit dieser Aussage: Indien ist ein großes Land, es ist ein armes Land, und es ist ein demokratisches Land. Die Größe ist nicht nur eine Frage der geografischen Ausdehnung und der Demografie. Sie drückt sich, im Gegensatz etwa zu China, auch in der Vielfalt ethnischer Gruppen aus. Ein grober Indikator ist die Anzahl der Sprachen: Auf den Banknoten erscheint der Tauschwert in nicht weniger als 17 Sprachen und Schriften; Linguisten warten mit weiteren 190 Sprachen auf, von den über 800 Dialekten gnaz zu schweigen.
Indiens Armut ist sprichwörtlich, und die wirtschaftlichen Erfolge der vergangenen 15 Jahre haben sie nur in relativen, aber nicht in absoluten Zahlen verringert. Indien bleibt das Land mit der größten Anzahl hungernder Menschen, mit der größten Sterbequote von Kleinkindern, und neuerdings – auch dies ein Armutsindikator – mit der größten Zahl HIV-infizierter Menschen. Demokratie als Ursache für Aufstände mag paradox erscheinen. Schließlich ist die Stabilität der indischen Demokratie eines der weltweit erstaunlichsten politischen Phänomene der vergangenen 60 Jahre. Sie hat sich seit der Unabhängigkeit des Landes 1947 – abgesehen von einem anderthalbjährigen Ausrutscher Mitte der 70er-Jahre – kontinuierlich vertieft. Und sie hat nicht nur die ethnische Vielfalt des Landes am Leben erhalten; sie hat auch immer wieder als Ventil gewirkt für die Frustrationen gegenüber der Lethargie des Staats bei der Armutsbekämpfung.
Doch Armut, Vielfalt und demokratische Rechte können sich auch zu einem explosiven Gemisch verbinden. Es gibt nur wenige Bundesstaaten, in denen es keine bewaffneten Untergrundgruppen gibt. Einige Staaten, etwa im Nordosten des Landes, leben seit der Unabhängigkeit in einem Guerillakriegszustand. Allein im kleinen Bundesstaat Manipur – halb so groß wie die Schweiz, ein Drittel ihrer Bevölkerung – gibt es 35 ethnische Gruppen und 26 Untergrundbewegungen. Während die Forderungen hier meist ethnischer Natur sind, haben sie etwa in Bihar eine soziale und ökonomische Komponente, mit Kasten-Milizen, die mit Waffen die Interessen ihrer Gruppe schützen, oder revolutionären Zellen, die einen maoistischen Bauernstaat schaffen wollen. Die große Mehrheit der Rebellenbewegungen schöpft das emotionale Potenzial ihres Kampfs aus der Armut und der ethnischen Gefährdung. Ihre politische Legitimation holen sie aus dem (oft uneingelösten) demokratischen Anspruch des Landes.
Die Demokratie in Indien ist ein wichtiges Element der Kontestation, der Betonung des Andersseins, der Protestrufe armer Menschen. Sie ist aber paradoxerweise auch einer der Gründe der gesellschaftlichen und politischen Stabilität des Landes. Und sie ist für viele Kritiker auch dafür verantwortlich, dass der Staat oft zu schwach ist, um die Gefahren einzudämmen, die diesen Cocktail aus Ethnizität, Armut und demokratischem Anspruch in großer Zahl erzeugen.
Ein Beispiel ist die föderalistische Struktur der indischen Republik. Auch sie ist letztlich ein Ausdruck einer demokratischen Gesellschaft. Gleichzeitig macht sie es dem Zentralstaat oft schwer, die innere Sicherheit des Landes zu garantieren. Delhi verfügt – neben der Armee und der Grenzwacht – nur über eine zentrale Einsatztruppe, die „Central Reserve Police Force“ (CRPF). Ihre Einsatzkraft wird einmal durch ihre bescheidene Größe eingeschränkt, und noch mehr durch die Tatsache, dass für Recht und Ordnung die Bundesstaaten verantwortlich sind. Sie bitten die Zentralregierung nur um die Bereitstellung von CRPF-Bataillonen, etwa wenn religiöse Unruhen drohen.
Die Schwäche des föderalistisch-demokratischen Staates zeigt sich gerade gegenüber Bewegungen, die mit einer Gewaltstrategie landesweite gesellschaftliche Änderungen anstreben. So sind etwa die „Naxaliten“, wie die maoistische Untergrundbewegung in Indien genannt wird, heute in etwa zwölf Staaten aktiv. (Die Naxaliten leiten ihren Namen aus einem Dorf in Bengalen namens Naxalbari ab, wo die Bewegung vor 30 Jahren ihren Ausgang genommen hat). Sie verfolgen das Ziel, den indischen Staat mit Gewalt aus den Angeln zu heben. Die Bundesstaaten sind mit ihren Polizeikräften in der Regel nicht ausreichend ausgestattet, um sich in einem Guerillakrieg zu engagieren. Die Naxaliten nutzen zudem taktisch geschickt die Grenzen zwischen einzelnen Bundesstaaten, um sich nach Attentaten oder Sabotageakten über die Provinzgrenzen hinweg zurückzuziehen und der Verfolgung durch die lokale Polizei zu entziehen.
Es sind nicht nur diese taktischen Vorteile, welche die rasche Ausbreitung der Naxaliten in den vergangenen 15 Jahren erklären, die heute nach Ansicht von Premierminister Manmohan Singh zum größten Problem der inneren Sicherheit des Landes geworden sind. Bei einer Konferenz der Regierungschefs der Bundesstaaten im April erklärte Singh, 160 der mehr als 600 Bezirke Indiens (rund 27 Prozent) entglitten mehr und mehr jeder Regierungskontrolle und fielen in die Hände der Maoisten. Das Problem sei schwerwiegender als die Kleinkriege in Kaschmir und im Nordosten des Landes. Nimmt man die Zahl der Naxaliten-Opfer als Anhaltspunkt, ist dies zweifellos richtig: Die 700 Opfer im vergangenen Jahr sind mehr als die Gesamtzahl der Toten in diesen beiden Konfliktherden.
Betrachtet man die von den Naxaliten am stärksten betroffenen Regionen, stellt man fest, dass sie identisch sind mit den ärmsten Gegenden des Landes, sowie den Siedlungsgebieten der Ureinwohner. Letztere sind vom modernen Staat immer stärker entrechtet und verdrängt worden, sei es durch strenge Forstgesetze oder die Verpachtung großer Landstriche an Industrieunternehmen.
Es ist diese Kombination von geografischer, wirtschaftlicher und sozialer Randlage – schlechte Straßen, dichte Bewaldung, wenige Schulen und Krankenhäuser, hohe Arbeitslosigkeit –, die dafür verantwortlich ist, dass die Maoisten hier ein ideales Terrain für ihre Mission vorfinden.
Die Polizeikräfte der Staaten setzten sich bisher mit dem Problem als einem von Recht und Ordnung auseinander. Sie verdächtigten die Bevölkerung der Kollaboration, erpressten mit Foltermethoden Geständnisse oder versuchten es mit Bestechung. Erst seit einigen Jahren gibt es in einzelnen Staaten (wie Andhra Pradesh) Versuche, die lokale Bevölkerung durch wirtschaftliche Förderung – etwa dem Bau von Straßen zum nächsten Marktort – dem Einfluss der Naxaliten zu entziehen.
Im zentralindischen Staat Chhattisgarh dagegen hat eine ähnliche Initiative Schiffbruch erlitten. Dort sollten Stammesbewohner in einer Miliz namens „Salva Judum“ („Jagd nach dem Frieden“) zusammengefasst und bewaffnet werden. Die Reaktion der Naxaliten war massiv: Die Salva-Judum-Mitglieder wurden zum Freiwild erklärt, viele von ihnen entführt und erschossen. Als der Staat in seiner Reaktion noch einen Schritt weiterging und die Salva Judum in befestigten Dörfern entlang der Haupststraßen ansiedelte, war die Folge noch fataler: Nun wurden auch die Familien zum Feind gestempelt, ganze Dörfer abgebrannt und Angehörige entführt. Die rasche Ausbreitung der Naxaliten in immer mehr Staaten – ihr Einflussgebiet bildet inzwischen einen breiten Gürtel von Tamil Nadu bis an die Grenze zu Nepal, wo sie mit den nepalischen Maoisten Kontakt hergestellt haben – hat das Innenministerium in Delhi bewogen, eine gemeinsame Strategie zwischen den Staaten zu entwickeln. Dabei sollen nicht in erster Linie guerillaerprobte CRPF-Truppen eingesetzt, sondern vielmehr die Polizeikräfte der Bundesstaaten für den Guerillakampf ausgebildet werden. Zudem will man den Bundesstaaten Mittel zur wirtschaftlichen Entwicklung dieser Armutsregionen bereitstellen.
Warum hat der Staat bisher darauf verzichtet, gegen die Naxaliten die Armee einzusetzen? Die Streitkräfte des Landes sind grundsätzlich ein Instrument der Außenverteidigung des Landes. In Indien hat die Ausrichtung auf diese außenpolitische Rolle dem Land bisher Putschversuche erspart und das Image der Armee als einem „professionellen“ Arm des Staates bewahrt. Die Armee genießt gerade deshalb in allen gesellschaftlichen Schichten einen positiven Ruf. Es sind denn auch die Generäle selbst, die die Politiker davor warnen, ihre Bataillone in innenpolitischen Konflikten einzusetzen.
Ein Grund ist wohl zudem die Erfahrung in den beiden ältesten Binnenkonflikten des Landes, in Kaschmir und im Nordosten. Sie liegen in grenznahen Gebieten – Kaschmir hat eine lange und unbereinigte Grenze zu Pakistan, und die sieben Stammesstaaten im Nordosten grenzen an Bangladesch, Myanmar (Burma) und China. Alle diese Nachbarn leben in einem unterschiedlich intensiven Spannungsverhältnis zu Indien, und dies legitimiert den Einsatz der Armee an der Grenze und im Innern dieser Bundesstaaten.
Obwohl die Militärs in diesen langjährigen Konflikten beträchtliche Kampferfahrung gesammelt haben, müssen sie sich immer wieder schwere Menschenrechtsverletzungen vorwerfen lassen. In beiden Regionen ist ein drakonisches Armeegesetz in Kraft, das fundamentale Persönlichkeitsrechte aushebelt. Obwohl die Armee durchaus versucht, als „Freund und Helfer“ aufzutreten, ist es ihr bisher nicht gelungen, die Konflikte zu entschärfen. Dies mag zum Teil auf die internationale Dimension zurückzuführen sein, wie etwa dem „grenzüberschreitenden Terrorismus“, den Indien dem Nachbarn Pakistan vorwirft.
Ein wichtiger Grund ist aber auch die fehlende Eignung der Armeestrukturen, zivilstaatliche Aufgaben zu erfüllen und damit die Einstellungen der Bevölkerung zugunsten ihrer „Beschützer“ zu verändern. Damit bleibt ein wichtiges Motiv für die anhaltende Rekrutierung junger Menschen für den Untergrundkampf erhalten.
Bernard Imhasly ist Indien-Korrespondent der „Neuen Zürcher Zeitung“.