Der Autor Shashi Tharoor schreibt in seiner "kleinen Geschichte Indiens" sehr anschaulich über den langsamen Aufstieg eines kleinen unberührbaren Jungen, mit dem die Kinder des Dorfes anfangs nicht einmal spielten, zu einem Verwaltungsbeamten in der Distrikthauptstadt. Er gibt damit ein konkretes Beispiel für die Chancen der "Reservierungspolitik" des indischen Staates, mit der jahrzehntelange soziale und politische Diskriminierungen überwunden werden sollen. Indische Zeitungen berichten über geschätzte 20.000 bis 25.000 gewalttätige Übergriffe auf Unberührbare und Adivasis - jedes Jahr. Ein Beispiel: Fünf junge Männer wurden im Oktober 2002 in einen Dorf im Bundesstaat Haryana gelyncht. Sie hatten eine tote Kuh gekauft und wollten deren Haut auf dem Markt verkaufen; die einzige Möglichkeit für diese Gruppe von Unberührbaren, sich einen Lebensunterhalt zu verdienen. Als sie sich weigerten, an die Polizei ein "Entgeld" zu zahlen, wurde der Verdacht geäußert, sie hätten die Kuh geschlachtet. Die Nachricht verbreitete sich in Windeseile und ein Mob von 2.000 Dorfbewohnern prügelte die Fünf zu Tode.
Beide Meldungen, obwohl sie unterschiedlicher nicht sein könnten, geben ein Bild des heutigen Indiens, das dann gern mit Schlagwörtern wie "Indien zwischen Tradition und Moderne" beschrieben wird. Gerade das Phänomen der Unberührbarkeit, die Exis-tenz von Kasten und das "Kastensystem" werden häufig als ein Teil der Tradition ausgemacht. Dagegen gibt es deutliche Anzeichen, dass das Kastensystem, so wie es heute in Indien existiert, ein Produkt moderner Entwicklungen ist, die im 19. und 20. Jahrhundert zu großen Teilen unter kolonialen Bedingungen stattgefunden haben. Im Verlauf der Eigenstaatlichkeit Indiens ist es dann zu einem festen Bestandteil der Politik geworden.
Wie kam es zu dieser Entwicklung? Die britische Historikerin Susan Bayly vertritt die Auffassung, dass es noch im 18. und 19. Jahrhundert große Gruppen von Menschen gegeben habe, die außerhalb dessen standen, was wir heute als Kastensystem verstehen. Ein uniformes, ganz Indien durchdringendes System sei das Produkt jüngerer historischer Entwicklungen, die ihrer Meinung nach ihre spezifische Ausrichtung in der kolonialen Moderne erhielten.
Damit soll nicht gesagt sein, dass es vorher keine Kasten gegeben hätte - die gab es sehr wohl. Zum einen als Idee, beschrieben von Gelehrten in Form einer idealen Ständegesellschaft, die sich in die vier Varnas gliedert: Die brahmans als Gelehrte und Priester, die rajanyas/kshatriyas als Herrscher und Krieger, die vaishyas als Händler und Handwerker, manchmal auch Bauern, und die shudras als Diener und Arbeiter der verschiedensten Art. Zum anderen in Form einer fein differenzierten, hierarchischen Gliederung zahlreicher jatis. Der Begriff "jati", der dem Begriff der Kaste am nächsten kommt, bedeutet ganz allgemein Herkunft, Abstammung oder Gattung und findet konkret Verwendung, um Geschlecht, Rasse, Kaste, Stamm, Familie, Clan, ethnische Gruppe, Beruf beziehungsweise Tätigkeit, Anhänger einer bestimmten Religion oder gar Nation anzugeben.
In der geografischen, klimatischen und ethnischen Vielfalt des indischen Subkontinents gab es eine Vielzahl verschiedener lokaler Sozialsysteme, die nur dem einen Prinzip vormoderner sozialer Gliederung folgten: die verschiedenen Gruppen durch die bekannten Mechanismen wie Heiratsregeln, begrenzte Speisegemeinschaften, Vererbung des Berufes und Reinheitsgebote, Verhaltensregeln und Kleiderordnungen voneinander abzugrenzen und in eine Hierarchie einzubinden. Dabei gab es spezielle Gruppen, die außerhalb der geachteten Gesellschaft standen und dennoch unabdingbar für deren Funktionieren waren. In Indien heißen sie Unberührbare, in Deutschland waren es die so genannten Unehrlichen, in Japan die so genannten Nicht-Menschen.
Diese unterscheiden sich vom Gros der Gesellschaft entweder durch ihre ethnische Herkunft und ihre damit verbundenen anderen Lebens- und Verhaltensnormen, oder sie gehen einer bestimmten Tätigkeit nach, die zwar unabdingbar, aber als unrein, magisch, gefährlich oder im wahrsten Sinne des Wortes stinkend betrachtet wird. So sind zum Beispiel die Lederarbeiter in vielen Gesellschaften eine verachtete und randständige Gruppe. Gruppen von Menschen zu marginalisieren, ist ein erprobter Mechanismus, sie vom Besitz an Land, Teilhabe an ökonomischen Ressourcen und politischer Macht auszuschließen, sie in Knechtschaft zu halten und schlichtweg auszubeuten. Damit unterscheiden sich die vormodernen indischen Gesellschaften durch nichts von anderen Gesellschaften.
Doch warum wurden in Indien Teile einer auf den ersten Blick vormodernen Sozialstruktur in eine moderne, demokratische Gegenwart übernommen und haben dort eine lebendige Funktion? Um diese Frage zu beantworten, muss man einen Blick auf die britische Kolonialpolitik ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts werfen. Um den Kolonialbesitz besser verwalten zu können, begann man 1872 damit, Daten über die Bevölkerung zu erheben. Mit dem erworbenen soziologischen Wissen verschaffte man sich die Illusion, das Volk zu kennen. Die Kolonialherren konnten nun gezielt nach Bündnispartnern in der Ausübung der Macht suchen.
Allerdings ging man nicht unvoreingenommen an die Befragung, sondern hatte ein bestimmtes Bild von Indien, das hauptsächlich den überlieferten Schriften entnommen wurde. Zu ihrer Verwunderung mussten die Kolonialverwalter dann konstatieren, dass es sich als schwierig erwies, auf die einfache Frage "Was ist ihre Kaste?" eine klare Antwort zu bekommen. Mit ihrer Frage hatten sie nicht die oben genannte Bedeutungsfülle des Wortes jati im Sinn, sondern sie wollten lediglich die soziale Gliederung und Hierarchie sowie den Platz jedes Einzelnen darin so eindeutig wie möglich herausfinden. Zusätzlich sollte jede jati eine präzise Zuordnung zu einem varna erhalten, einheitlich für ganz Indien.
Dies hatte noch kein Herrscher zuvor versucht; es war für die meisten Befragten eine ebenso neue wie unverständliche Angelegenheit. Da aber mit der vorgenommenen Einteilung ganz konkrete Konsequenzen verbunden waren, mussten sie die Fragen ernst nehmen. Solche konkreten Auswirkungen waren etwa die Zulassung zum Militärdienst oder in den Verwaltungsapparat, die Rechtsprechung vor Gericht nach dem Brauch der jeweiligen Kastengruppe oder ab 1911 die Ermittlung von so genannten "depressed classes", die einem besonderen Schutz der Kolonialverwaltung unterstellt wurden.
In der Folge entstanden bereits Ende des 19. Jahrhunderts Assoziationen von jatis, die sich über lokale und regionale Grenzen hinaus zu Gruppen zusammenschlossen, die nach kolonialer Auffassung eine einheitliche Kaste bilden und sich mit Hilfe solcher Assoziationen darum bemühten, trotz traditioneller Unterschiede nun dem Bild einer uniformen Kaste zu entsprechen und auf diese Weise ihre Rechte vor Gericht und als politische "pressure group" zu vertreten. Dies bedeutete zum Beispiel, die Heiratsregeln zu verschärfen, um sich von anderen Gruppen abzugrenzen. Dieses Phänomen des Zusammenschlusses zu überregionalen Kastenverbänden ist für Indien ebenso neu wie die Kategorie der "depressed classes", die seit 1936 "scheduled castes" (SC) und "scheduled tribes" (ST) heißt. Beides trug zum Erstarken eines Kastenbewusstseins sowie zum Gebrauch der Kastenidentität als Mittel im politischen Kampf um Teilhabe an Macht und Ressourcen bei. Der Status und eine nicht konkret definierte "Rückständigkeit" wurden zu Kriterien, nach denen Gruppen, communities und eben nicht Individuen als Verhandlungspartner des Kolonialstaates bestimmt wurden.
Nach 1947 knüpfte der indische Staat an diese Politik an. Nach der Kastenzugehörigkeit wurde zwar schon seit dem Zensus von 1931 nicht mehr gefragt und die Unberührbarkeit 1950 abgeschafft. Aber ei-nerseits hatte sich die Kaste als gesamtindische Erscheinung bereits fest etabliert, andererseits sah sich die Regierung einem mit der Unabhängigkeit verbundenen enormen Anspruch ausgesetzt, die sozialen Differenzen, Armut, Elend und Hunger unter einem großen Teil der Bevölkerung zu mildern und zu beseitigen. Rund 15 Prozent der Bevölkerung zählen heute zu den SC, acht Prozent zu den ST, für die eine Quotierung in Bildungseinrichtungen und für Regierungsjobs vorgesehen ist. Doch nur selten werden die Quoten realisiert. So stellt sich die Frage, ob die Reservierung von Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst das Problem der betreffenden Schichten löst, die in einer von der Landwirtschaft und dem nichtorganisierten Sektor dominierten Wirtschaft leben. Eine effektive Landreform hat nie stattgefunden, da sie gegen die Interessen der besitzenden und zugleich regierenden Schichten gewesen wäre. Stattdessen wurde die Reservierungspolitik auf eine dritte Gruppe ausgeweitet, den so genannte "other backward classes" (OBC). Nach wiederum eher verschwommenen Kriterien wurde fast die Hälfte der Bevölkerung von der Mandal-Kommission, die 1979 eingesetzt und deren Empfehlungen 1990 politisch umgesetzt wurden, zu den OBC gerechnet, für die es Quotierungen geben sollte.
Ergebnis der indischen Reservierungspolitik seit der Unabhängigkeit ist einerseits die Schaffung einer kleinen Elite unter den SC, ST und OBC und die Illusion, dass jedem von ihnen der ökonomische und soziale Aufstieg gelingen könnte. Andererseits ist eine "stille Revolution" zu beobachten, womit der französische Politologe Christophe Jaffrelot den Übergang der politischen Macht von der Elite an einige Gruppen aus den OBC beschreibt. Die zahlenmäßige Stärke dieser Gruppen und die große Bedeutung von Zahlen in der demokratischen, auf Wahlen und Stimmen basierenden Politik verhalf ihnen in einigen Bundesstaaten zu politischen Teilhabe in bislang unbekanntem Ausmaß, der aber nur vereinzelt auch ein wirtschaftlicher Aufschwung folgt.
Die wachsenden indischen Mittelschichten sehen diese Entwicklung dennoch mit Sorge. Eigene Existenzängste und gefühlte Bedrohungen werden mit zunehmender Gewalt gegen Unberührbare, Adivasis und OBC abreagiert. Insbesondere auf dem Land werden die Kämpfe um die Verteilung der Ressource Land mit großer Brutalität geführt; staatliche Gesetze können nur selten durchgesetzt werden. So bleibt den bislang Unterprivilegierten und Randgruppen meist nur eine Tätigkeit als Tagelöhner am Rande des Existenzminimums. Sie werden weiter auf ihrer "Rückständigkeit" bestehen, weil es der einzige ihnen bekannte Mechanismus ist, mit dem sie eine kleine Hoffnung auf Verbesserung ihrer Lage verbinden.
Aufgrund dieser Entwicklungen in den vergangenen Jahrzehnten werden die Kasten, Kastenassoziationen und Kastenparteien in der indischen Politik und in den Verteilungskämpfen weiterhin eine Rolle spielen. Für zu viele - und nicht immer die Bedürftigen - haben sich diese Organisationsformen als profitabel erwiesen, ihre Interessen durchzusetzen. Allerdings ist durch die Zersplitterung der politischen Kräfte in zahlreiche Interessengruppen der Druck auf den indischen Staat nicht stark genug, um notwendige soziale Umgestaltungen effektiv umzusetzen. Dazu zählen in erster Linie eine Landreform, aber auch für eine Demokratie eigentlich selbstverständliche Maßnahmen wie zum Beispiel eine Bildungspolitik für alle Bürger, eine der Voraussetzungen für die Herausbildung eines neuen Selbstverständnisses indischer Staatsbürger.
Melitta Waligora ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Südasien der Humboldt-Universität Berlin.