Es ist eine verwegene Aufgabe, eine 18-seitige Ausgabe zum Thema "Neue Macht: Indien" zu produzieren. Allein die Zahlen sind beeindruckend: Indien ist gut neun Mal so groß wie Deutschland. Rund 1,1 Milliarden Menschen leben dort; nur China zählt noch mehr Einwohner. Nahezu jeder Bundesstaat für sich ist ein Unikum - geografisch, politisch, historisch, religiös. "Es gibt nichts, was es in Indien nicht gibt" ist ein Spruch, den man von Indern oft hört - meist gepaart mit einem Schulterzucken. Viele Westeuropäer, die das Land besuchen, sind überwältigt angesichts der Geschwindigkeit des öffentlichen Lebens, der nur unzureichend als bunt, wild oder kurios zu beschreibenden Mischung, die man dort sieht, hört, riecht oder schmeckt - oder auch alles zusammen.
Das liegt auch daran, dass das Land für die meis-ten Westeuropäer in vielerlei Hinsicht immer noch eine unbekannte Größe ist. Jahrzehntelang teilte Indien im Westen das Schicksal anderer Entwick-lungsländer: Es wurde weitgehend ignoriert in den Medien, trotz seiner Größe, trotz seiner Vielfältigkeit. Schlagzeilen machten kurzzeitig meist nur Dürren und Hungerkatastrophen, blutige Auseinandersetzungen zwischen Moslems, Hindus und Sikhs, Menschenrechtsverletzungen, der Krieg in der Kaschmir-Region und die Atompläne - Krisenmeldungen hoher Kategorie. Später, in den 90er-Jahren, war dann China das politisch und ökonomisch interessantere Land für den Westen.
Das hat sich gewandelt. Grund dafür ist vor allem die fast unglaubliche wirtschaftliche Entwick-lung des Landes. Die Anfang der 90er-Jahre eingeleitete Liberalisierungspolitik bereitete die Grundlagen für einen Boom in einigen Branchen, der Wirtschaftsexperten von Möglichkeiten wie zu "Wirtschaftswunderzeiten" schwärmen lässt. Die Reaktionen darauf sind in Deutschland nicht nur positiv: Vor einigen Jahren zum Beispiel mutierte "Computer-Inder" zum Synonym für hervorragend ausgebildete IT-Spezialisten; gleichzeitig artikulierte sich darin das angstvolle Bewusstsein, dass der globalisierte Wettbewerb um Arbeitsplätze nun auch die akademische Elite erreichte. Nicht ganz ohne Grund: Deutsche Firmen verlagern Teile ihrer Produktion, vermehrt aber auch Dienstleistungen in das südasiatische Land.
Der Einfluss des riesigen Staates in der Welt wird weiter wachsen. Er war in diesem Jahr Partnerland der Hannover-Messe. Die Regierung engagiert sich im weltweiten "Kampf gegen den Terror". Das Land glaubt inzwischen auch selbst, weltpolitisch wieder unter den Top Ten zu sein: Indien will den Nachfolger von UN-Generalsekretär Kofi Annan stellen. Ende Juni hat die Regierung UN-Untergeneralsekretär Shashi Tharoor als Kandidaten vorgeschlagen. Und in den kommenden Monaten wird das Land in deutschen Medien fast omnipräsent sein - als Gastland auf der Frankfurter Buchmesse.
Doch entgegen dieser Euphorie sollte man nicht vergessen, dass die "größte Demokratie der Welt" vor enormen Problemen steht: Die Armut bleibt riesig; die vorsichtigen Zeichen der Annäherung zwischen Indien und Pakistan sowie Indien und China sind noch fragil; die Terroranschläge im Oktober 2005 und im Juli dieses Jahres mit zahlreichen Opfern zeugen auch von einer großen Verletzbarkeit.
Die Widersprüche also bleiben. Diese Ausgabe konzentriert sich daher auf Fragen der Emanzipation: Wie hat sich Indien wirtschaftlich und kulturell in den vergangenen Jahren entwickelt, wo wird es im Jahr 2020 stehen? Welche Chancen und Risiken ergeben sich daraus für die Weltpolitik, für die deutsche Wirtschaft, für Bauern, die unter der Armutsgrenze leben, für indische Frauen in der Großstadt? Ob Indien zu einem Global Player wird, hängt nicht zuletzt davon ab, dass nicht nur einige Millionen gut ausgebildeter Akademiker profitieren, sondern auch die Masse der Bevölkerung ihren Anteil daran hat.
Bert Schulz ist freier Journalist in Berlin.