Im September 2002 wurde der 11-jährige Bankierssohn Jakob von Metzler von dem Studenten Magnus Gäfgen in Frankfurt am Main entführt. Gäfgen forderte ein hohes Lösegeld von der Familie Metzler. Kurz nach der Geldübergabe wurde er verhaftet. Bei der Vernehmung machte er keine Angaben zu dem Verbleib von Jakob. Als der Frankfurter Polizeivizepräsident Wolfgang Daschner Gäfgen Gewalt androhte, um das Versteck des Entführten zu erfahren, nannte dieser den Fundort. Dort wurde das schon tote Kind entdeckt. Magnus Gäfgen wurde wegen Entführung und Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Der Polizeivizepräsident kam mit einer geringen Strafe davon. Das Gericht sah keine Rechtfertigung für die Aussageerpressung vorliegen und begründete das niedrige Strafmaß mit der für sich genommen ehrenwerten Absicht von Daschner, das Leben des entführten Jakob zu retten.
Dieser Entführungsfall hat eine Diskussion ausgelöst, die an ein in Deutschland bislang wirksames Tabu rührt: Die Polizei darf unter keinen Umständen foltern; schon eine Diskussion über mögliche Grenzen des Folterverbots erschüttert die Grundfesten des Rechtsstaats. Befürchtet wird, dass die gerade in Abwendung vom Unrechtsregime der Nationalsozialisten in Art. 1 Grundgesetz (GG) absolut geschützte Würde eines jeden Menschen in einen Abwägungsstrudel gerät, bei dem sie gegen reale oder vermeintliche Bedürfnisse von Gefahrenabwehr und Strafverfolgung verliert.
Trotz dieser Befürchtungen ließ sich das Tabu nicht mehr aufrechterhalten. Schließlich ging es um die Rettung des Lebens von Jakob, nicht um die Strafverfolgung des Entführers. Es war klar, dass der Entführer und nicht lediglich ein Verdächtiger gefasst war. Die Polizei durfte nach bestem Wissen und Gewissen davon ausgehen, dass Jakob noch lebt. Ist es dann ausnahmsweise gerechtfertigt, wenn körperliche Gewalt gegen den Entführer angedroht und notfalls auch angewandt wird? So sah es der Frankfurter Polizeivizepräsident Daschner, und so sahen es je nach Umfrage die Hälfte oder etwa zwei Drittel der Bevölkerung, jedenfalls hinsichtlich der Androhung von körperlicher Gewalt. Juristen und Kommentatoren dagegen sahen und sehen fast einhellig die geschilderten Bedenken überwiegen und insistieren auf einem absoluten Folterverbot. Die moralische Zwickmühle der Polizisten wird zwar zugestanden. Wer aber als Amtsperson foltere, müsse straf- und disziplinarrechtlich verfolgt werden. Einige meinen, die Strafe könne gemildert werden. Andere votieren für eine spätere Begnadigung. Wieder andere beharren auf der Strenge des Gesetzes; sie zollen aber dem Polizisten, der dem gefassten Erpresser körperlichen Zwang androht oder diesen sogar anwendet und dafür die Strafe auf sich nimmt, moralischen Respekt.
Die Texte aller einschlägigen Rechtsnormen weisen auf ein absolutes Verbot staatlichen Zwangs zur Herbeiführung von Aussagen durch Personen hin, die sich in Polizeigewahrsam befinden. Zudem stellen solche Aussageerpressungen "Folter" dar, wie Art. 1 der UN-Anti-Folter-Konvention deutlich macht. Rechtlich einschlägig ist aber bei der beabsichtigten Abwehr einer Lebensbedrohung zunächst das Polizeirecht. Dieses fällt in die Zuständigkeit der Länder, deren Regelungen manchmal differieren, für diesen Fall aber in die gleiche Richtung zeigen. Wird eine Person festgenommen, und steht fest, dass sie der Entführer und (polizeirechtlich gesprochen) "Handlungsstörer" ist, so muss sie zur Beseitigung der Gefahr beitragen, also den Ort preisgeben, an dem der Entführte versteckt ist. Damit droht allerdings eine Selbstbezichtigung des Entführers für ein späteres Strafverfahren. Solche Selbstbezichtigungen schließen moderne Rechtsstaaten aus, indem sie der ja strafrechtlich noch zu überführenden Person ein Aussageverweigerungsrecht zugestehen. Gefahrenabwehrrecht und Strafprozessrecht treten in einen Gegensatz: Aus Gründen der Gefahrenabwehr sollte die Aussagepflicht bestehen, aus Gründen fairer Strafverfolgung jedoch ausgesetzt werden. Die Lösung dieses Konflikts gibt Paragraph 12 II des hessischen Polizeigesetzes exemplarisch vor: Danach wird das grundsätzlich bestehende Aussageverweigerungsrecht eingeschränkt, "wenn die Auskunft für die Abwehr einer Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person erforderlich ist". 1
Folge einer Aussage des Entführers ist, dass die gewonnenen Informationen die Gefahr beseitigen (das Entführungsopfer wird gefunden); in einem späteren Strafverfahren dürfen sie allerdings nicht verwendet werden. Das schließt eine Strafbarkeit in aller Regel nicht aus, denn die bis zur Aussage gewonnenen Informationen der Polizei bleiben verwertbar.
Was aber, wenn der Entführer keine Aussage machen will? Dann gibt das Polizeirecht den Amtswaltern die Möglichkeit der Vollstreckung, soweit der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet wird: Falls möglich, hat die Polizei die Gefahr selbst zu beseitigen. Muss sie auf den Handlungsstörer selbst zugreifen, stehen Zwangsgeld, Zwangshaft und Zwang gegen Sachen oder Personen zur Verfügung, bis hin zum Schusswaffengebrauch. Im äußersten Notfall darf die Polizei sogar den so genannten finalen Rettungsschuss einsetzen: "Ein Schuss, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tödlich wirken wird, ist nur zulässig, wenn er das einzige Mittel zur Abwehr einer gegenwärtigen Lebensgefahr oder der gegenwärtigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der körperlichen Unversehrtheit ist" - so formuliert exemplarisch Paragraph 54 II Polizeigesetz Baden-Württemberg (PolG BW). In der hier vorausgesetzten Entführungssituation würde nur die Anwendung körperlichen Zwangs helfen - Folter. Das ist jedoch verboten: "Die Polizei darf bei Vernehmungen zur Herbeiführung einer Aussage keinen Zwang anwenden." (Paragraph 35 PolG BW) Ausnahmen sind nicht vorgesehen.
Das absolute polizeirechtliche Verbot gilt auch im Verfassungsrecht und Völkerrecht. Art. 104 I 2 GG setzt fest: "Festgehaltene Personen dürfen weder seelisch noch körperlich mißhandelt werden." Diese Norm gründet in der Verbürgung der Menschenwürde in Art. 1 I GG: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Ausnahmen sind nicht vorgesehen, und es ist unbestritten, dass diese Normen auch Rechtsbrechern oder des Rechtsbruchs Verdächtigen zugute kommen. Im Völkerrecht gibt es mehrere von Deutschland ratifizierte Konventionen, die Folter ausschließen. Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) formuliert: "Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden." Dieses Verbot ist ebenfalls absolut; selbst im Kriegsfall oder bei Notstandsfällen, in denen Tausende von Menschen bedroht sind, ist keine Ausnahme erlaubt. Die Rechtstextlage scheint also eindeutig: Festgenommene Personen dürfen nie in ihrem Willen gebrochen und zu einer Aussage gezwungen werden, was immer die Konsequenzen sind. Ob nun ein unschuldiges Opfer oder Tausende, Hunderttausende Opfer sterben müssen, für das Recht macht das keinen Unterschied. Keine Folter, ohne Ausnahme!
Bietet das Strafrecht vielleicht eine Möglichkeit, ausnahmsweise den körperlichen Eingriff doch zu rechtfertigen? Paragraph 32 Strafgesetzbuch (StGB) regelt, dass eine durch Notwehr gebotene Handlung nicht rechtswidrig ist: "Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden." Danach durften sich Jakob und seine Eltern gegen die Entführung wehren, und die Eltern dürften nach einer Entführung, falls sie des Täters habhaft werden, alles Notwendige tun, um das Versteck zu erfahren, erforderlichenfalls auch Gewalt anwenden, "foltern". Die Polizei dagegen darf dies nach herrschender Meinung nicht. Für sie gilt nicht das private Notwehr- und Nothilferecht. Vorrang hat das dargelegte Amtsrecht, das von Verfassungs- und Völkerrecht geboten, spezifischer auf die hier vorliegende Situation bezogen und zudem jüngeren Datums ist. Selbst wenn die völkerrechtlichen Folterverbote nur die reale Zwangsausübung und nicht schon deren Androhung verbieten sollten, hätte der grundgesetzliche Ausschluss von Zwang gegen Festgenommene Vorrang; die Brechung des Willens autonomer Personen gilt als Würdeverletzung, die Art. 1 I GG kategorisch ausschließt. Diese Einwände gelten auch gegenüber einer Berufung auf den "Rechtfertigenden Notstand" in Paragaraph 34 StGB, wonach auch ohne Vorliegen eines Angriffs bei einer Gefahr für das Leben in Rechtsgüter eines anderen eingegriffen werden darf, wenn nach einer angemessenen Abwägung der im Streit befindlichen Rechtsgüter das eine Rechtsgut (das bedrohte Leben des Opfers) das andere Rechtsgut (die körperliche Unversehrtheit des Entführers) wesentlich überwiegt. Man mag sagen, dass das Leben des Entführungsopfers klar den Vorrang verdiene. Dem wird entgegengehalten: Selbst wenn man dies unterstellt, geht Amtsrecht vor Strafrecht; zudem ist die Benutzung des Mittels "Folter" kategorisch verboten.
Viele werden diese Rechtslage ungläubig zur Kenntnis nehmen und sagen: Hier wird die Gerechtigkeit auf den Kopf gestellt, indem das Recht kaltblütige Entführer und Erpresser belohnt und das Opfer leiden lässt. Doch reicht moralische Entrüstung nicht aus; die Rechtsordnung soll ja gerade soziale Konflikte verbindlich und verlässlich entscheiden. Lässt sich das Evidenzerlebnis von Ungerechtigkeit ummünzen in Rechtsargumente? Das ist möglich, trotz der dargelegten Rechtstextlage. Nichtjuristen mag dies verblüffen, Juristen aber wissen, dass dasjenige, was das Recht wirklich anordnet, erst nach der Interpretation und Berücksichtigung aller einschlägigen Rechtsnormen erkennbar wird. Und Juristen sollten wissen, dass zu einer gelungenen Interpretation auch ein genauer Blick auf die Umstände des Falles gehört.
Das Problem der Rechtssicht der herrschenden Meinung liegt in ihrer Einseitigkeit. Stellen wir uns die Idealfigur des Rechts, Justitia, vor. Ihre Augen sind verbunden, damit sie ohne Ansehen der Person - unvoreingenommen - entscheiden kann. Die eine Hand hält die Waage als Symbol der Gerechtigkeit; die andere umfasst das Schwert, das für die Durchsetzung des Rechts steht. Bislang ist es so, als ob Justitia, zu Recht aufgeschreckt durch die angedachte Folter, die Binde abnimmt, um unter Ansehung aller Umstände eine gerechte Entscheidung treffen zu können. Aber sie öffnet nur ein Auge, das die drohende Rechtsbeeinträchtigung des Entführers sieht und als inakzeptabel einstuft. Das andere Auge, das die legitimen Interessen des Entführten sehen und berücksichtigen sollte, bleibt geschlossen. Also öffnen wir auch das andere Auge und suchen im Polizei-, Verfassungs- und Völkerrecht nach Rechtsargumenten zugunsten des Entführungsopfers.
Das Polizeirecht basiert auf drei Grundsätzen: 1. Das Recht darf dem Unrecht nicht weichen. 2. Die Polizei muss Gefahren effektiv verhüten oder beseitigen. 3. Das muss verhältnismäßig geschehen. Auf diese Grundsätze lassen sich die genannten Einzelregelungen zurückführen. Dies gilt auch im Extremfall, etwa einer Geiselnahme, bei der der "finale Rettungsschuss" eingesetzt werden darf, wenn kein anderes Rettungsmittel zur Verfügung steht. Bei einem unausweichbaren Konflikt von Leben gegen Leben darf und muss sich die Polizei auf die Seite des Opfers stellen, nicht auf die des Täters, sonst verliert die Rechtsordnung ihren Anspruch auf Legitimität und Gesetzesbefolgung. Nach herrschender Meinung muss ein Geiselnehmer notfalls den tödlichen Schuss zur Rettung der Geisel dulden, nicht aber die Brechung seines Willens. Letzteres verletzt die Menschenwürde im Sinne von Art. 1 I GG, ersteres "nur" das Leben, das Art. 2 II GG stark, aber nicht absolut schützt. Deshalb ist die Willensbrechung nicht ein erlaubtes Minus zum Mehr des Rettungsschusses.
Die Zulässigkeit des finalen Rettungsschusses in unvermeidbaren Konfliktsituationen bietet aber eine Analogiebasis für Aussageerpressungen zur Rettung von Leben. Denn der Ausschluss von Zwang bei Vernehmungen basiert auf der generellen Hilflosigkeit des Festgenommenen gegenüber der Polizeimacht und deren vielleicht einseitiger Fixierung auf Resultate um jeden Preis. In der Ausgangssituation ist aber die Sachverhaltstypik anders, ja umgekehrt: Der Entführer hat die Situation insoweit in der Hand, als nur er weiß, wo das Opfer versteckt ist. Die Polizei darf ihn bitten und auffordern, aber schon nicht täuschen und erst recht nicht körperlich antasten, so dass rechtskundige Entführer gegenüber Androhungen von Folter ruhig bleiben können: absolut verboten! Diese Umkehr der Sachverhaltstypik spiegelt sich in der Rechtstextlage, etwa dem exemplarischen Paragraph 35 PolG BW, nicht wider. Es liegt deshalb eine "Bewertungslücke" in Form einer Fehlbewertung vor: Die Norm ist zu abstrakt, zu wenig trennscharf und nicht ausreichend auf die Fallumstände bezogen. Sie bedarf deshalb einer interpretativen Verengung für Fälle, in denen Leben gegen Leben oder Würde gegen Würde steht. Auch für Fälle, in denen Leben gegen Würde steht? Man könnte ja argumentieren, dass es für das Entführungsopfer "nur" um Leib und Leben geht, während die Folter die "Würde" des Entführers verletzt. Da aber "Leben" Voraussetzung für "Würde" ist, verdient jenes nach der Verfassung niedrigere (weil einschränkungsfähige) Rechtsgut den gleichen Schutz wie das höhere (weil nach dem Text schrankenlose) Rechtsgut Würde. Zudem spricht bei einer Entführungssituation vieles dafür, dass das versteckte Opfer selbst Würdeverletzungen erduldet: Sein Leib und seine Person werden als bloßes Mittel zum Zweck der Erpressung eingesetzt.
Im Verfassungsrecht ist das absolute Verbot des Zwangs gegenüber Festgenommenen in Art. 104 I 2 GG im Lichte der Menschenwürdegarantie des Art. 1 I GG zu sehen. Danach hat die Staatsgewalt die Würde eines jeden Menschen "zu achten und zu schützen". Bislang war aber nur von der Achtung der Würde des Entführers die Rede, noch nicht von dem Schutz der Würde des Entführten. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dem in Art. 2 II GG verankerten Lebensschutz komme als Vitalvoraussetzung der Menschenwürde ein besonderer Rang zu; insbesondere, soweit es um rechtswidrige Angriffe von Seiten Dritter gehe, sei der Staat zum Schutz verpflichtet. Dabei habe die Staatsgewalt in eigener Kompetenz über die geeigneten und angemessenen Mittel zu entscheiden; wenn aber nur ein Mittel übrig bleibe, reduziere sich das Auswahlermessen auf dieses eine Mittel. 2 Diese Rechtsprechung lässt sich auf den Ausgangsfall anwenden, falls dieser so gelagert ist, dass kein anderes Mittel als die Gewaltanwendung Erfolg verspricht. Damit stehen wir auch im Verfassungsrecht in einem Konflikt von Leben/Würde gegen Leben/Würde, in dem der rechtstreue Bürger den Vorrang verdient.
Das Völkerrecht scheint einer Aufweichung des Folterverbotes zu widersprechen, wie Art. 3 EMRK zeigt. Doch ist auch hier eine Korrektur möglich, wenn man mit Justitias anderem Auge einen Blick auf Art. 2 EMRK wirft. Absatz 1 verbietet dem Staat grundsätzlich die Tötung von Menschen. Absatz 2 setzt aber eine Einschränkung fest: "Die Tötung wird nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet, wenn sie sich aus einer unbedingt erforderlichen Gewaltanwendung ergibt: a) um die Verteidigung eines Menschen gegenüber rechtswidriger Gewaltanwendung sicherzustellen ...". In direkter Anwendung betrifft Art. 2 nur Tötungen wie den "finalen Rettungsschuss", nicht Willensbeugungen durch Folter. Folter als Mittel der Staatsgewalt wird spezifisch und kategorisch durch Art. 3 ausgeschlossen. Aber im Hinblick auf die Situationstypik ist Art. 3 unspezifisch, zu abstrakt: Die Norm tut so, als ob zwischen dem nazistischen Folterknecht und dem Polizisten, der das Leben eines Entführten nur noch mit Zwangsanwendung retten kann, kein moralischer und rechtlicher Unterschied besteht. Das überzeugt nicht. Art. 3 stellt in die normative Abwägung nicht ein, dass der Entführer die Grenzen des Rechts überschritten hat, dass er die Pflicht hat, die Gefahr zu beseitigen und das Versteck zu verraten. Art. 3 übersieht, dass das Opfer nichts tun kann außer leiden und Würdeverletzungen hinnehmen, dass der Entführer die Fäden in der Hand hält, dass der Familie der Zugriff auf den Rechtsbrecher versagt wird durch die polizeiliche Gewahrsamsnahme. Dieser blinde Fleck von Art. 3 wird durch Art. 2 kompensiert, der insoweit spezieller sowie moralisch und rechtlich "passender" ist. Die gerechte und auch rechtstechnisch beste Lösung liegt in einer Konkordanz beider Normen: Dann führt der Leitgedanke des Art. 2 II in unvermeidbaren Konfliktfällen von Leben/Würde gegen Leben/Würde zu einer Reduzierung des Anwendungsbereichs des Art. 3, der in Bezug auf das verbotene Mittel spezifischer ist. Art. 3 EMRK hieße somit: "Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Eine Folter oder foltergleiche Behandlung wird nicht als Verletzung dieses Artikels angesehen, wenn sie das einzige Mittel zur Abwehr einer gegenwärtigen Lebensgefahr oder der gegenwärtigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der körperlichen Unversehrtheit eines Dritten ist und sich gegen den Verursacher dieser Gefahr wendet."
Für eine besondere staatliche Verpflichtung zum Lebensschutz spricht auch die folgende Überlegung: Zwar ist nach herrschender Meinung das strafrechtliche Notwehr- und Nothilferecht für die Polizei nicht anwendbar, diese Normen werfen jedoch ein repräsentatives Licht auf das Recht in einem fiktiven Naturzustand: Jeder Mensch darf in dem gedachten vor-staatlichen Zustand seine Interessen und vor allem sein Leben gegen rechtswidrige Angriffe verteidigen. Wenn wir durch den Eintritt in eine staatliche Organisation unsere natürlichen Rechte abtreten und den Staat mit einem "Monopol legitimer Gewaltsamkeit" (Max Weber) ausstatten, dann wird quasi ein Grundvertrag zwischen den Individuen und dem Staat geschlossen: "Wir verzichten im Regelfall auf die Ausübung von Zwang. Dafür bist du nunmehr zuständig. Aber du musst die Streitigkeiten gerecht lösen und den Zwang, wenn es denn ohne ihn nicht geht, effektiv zur Rechtswahrung einsetzen. Das Niveau an allgemeinem Interessen- und vor allem Lebensschutz muss gesichert, besser noch gehoben werden."
Letzteres kommt durch die Organisation einer Polizei meist auch zustande; diese kann effektiver vorgehen als ein Einzelner, der sein Recht gegen andere durchsetzen muss. Zudem erlaubt der höhere Organisationsgrad eine rechtsstaatliche Mäßigung: Die Staatsgewalt verzichtet auf besonders brutale Mittel, ohne dass das Schutzniveau erheblich absinkt. Gelegentliche Kosten an Rechtsdurchsetzung werden so akzeptabel, z.B. wenn ein wegen eines Verbrechens Angeklagter freigesprochen wird, obschon dieser die Tat zwar wahrscheinlich, aber eben nicht mit ausreichender Gewissheit begangen hat. Anders kann die Lage bei der Gefahrenabwehr sein, wenn es um Lebensschutz in einer Entführungssituation geht. Nehmen wir an, die Familie des Entführten hätte bei der Geldübergabe selbst den Erpresser gefangen. Dann dürfte die Familie im Rahmen der strafrechtlichen Nothilfe alles Erforderliche tun, auch "foltern", um das Versteck des Opfers zu erfahren. Tritt nun aber die Polizei dazu und nimmt den Entführer in Obhut, sinkt das Schutzniveau deutlich unter das bisherige Maß. Nunmehr muss die Polizei den "Handlungsstörer" gegen Zugriffe von Seiten der Familie, aber auch von Seiten eingriffsbereiter Bürger oder Polizisten, schützen, notfalls mit Gewalt, Waffengewalt, bis hin zur Tötung. So führt das absolute Verbot der Anwendung von Zwang gegenüber Festgenommenen zu einer Absenkung des Schutzniveaus für die Bürger im Hinblick auf die Staatsaufgabe, die der Primärgrund für den Eintritt in eine Staatsorganisation überhaupt ist: Sicherung von Leben. Damit bricht der Staat den Grundvertrag mit den Bürgern. Lebensschutz wird durch ihn weder optimiert noch respektiert, sondern dezimiert. Der Wert Zivilität setzt sich gegen die Staatsaufgaben Sicherung von Leben, Freiheit und Eigentum durch. Das ist jedenfalls bei drohendem Lebensverlust nicht folgerichtig. Für solche Fälle verdient Lebensschutz Vorrang vor Zivilitätswahrung. Falls die staatliche Rechtsordnung dem nicht Rechnung trägt, muss sie ihr Monopol legitimer Zwangsgewalt aufgeben und es den Bürgern zurückgeben. Dann herrschte wirklich wieder mittelalterliches Faustrecht. Daran sollte keiner ein Interesse haben.
Gegen Aufweichungen des Folterverbots werden Bedenken erhoben: Lassen wir auch nur einen Fall von Folter zu, werden unsere Polizisten über kurz oder lang in vielen Situationen zu diesem Mittel greifen; ferner werden andere, rechtsstaatlich nicht so gefestigte Staaten die weltweit verankerten Folterverbote umso öfter missachten. Unbestreitbar ist, dass eine Organisation wie die Polizei, deren Hauptaufgabe effektive Gefahrenabwehr (und dann auch Strafverfolgung) ist, strukturell in Gefahr steht, rechtsstaatliche Grenzen zu überschreiten. Solche Fälle sind bei uns einerseits selten, passieren aber doch immer wieder. Sie werden dann aber auch ruchbar und verfolgt.
Würde die hier vorgeschlagene Einschränkung des Folterverbots solche Grenzüberschreitungen geradezu herausfordern? Das ist nicht der Fall, wenn man die Ausnahmekonstellation genau umreißt. Diese sollte acht Merkmale umfassen: (1) eine klare, (2) unmittelbare, (3) erhebliche Gefahr für (4) das Leben oder die körperliche Integrität einer Person durch (5) einen identifizierten Aggressor, der (6) gleichzeitig die einzige Person ist, die zur Gefahrenbeseitigung in der Lage und (7) dazu auch verpflichtet ist. (8) Die Anwendung körperlichen Zwangs ist das einzig erfolgversprechende Mittel. Eine Ausnahme vom Folterverbot ist also nicht gerechtfertigt, wenn (1) ein bloßer Verdacht einer Gefahr vorliegt oder die Gefahr (2) lediglich mittelbar oder (3) unerheblich ist oder (4) ein nicht so gewichtiges Rechtsgut - etwa Eigentum - betrifft oder wenn (6 u. 7) die Polizei die Gefahr selbst oder (8) mit geringer eingreifenden Mittel beseitigen kann. (5) Gegen bloß Verdächtige, selbst stark Verdächtige, oder dritte Personen - etwa Verwandte oder Rechtsanwälte - darf nicht vorgegangen werden.
Diese Merkmale sind Juristen bestens bekannt, sie sind justiziabel und ausreichend bestimmt, so dass Dammbrüche nicht zu befürchten sind. Zweifelsfälle sind natürlich nicht ausgeschlossen, etwa bezüglich der Frage, welche Intensitätsgrade von Eingriffen in die körperliche Integrität des Entführten für eine Abwägung mit dem Folterverbot erforderlich sind, aber dazu geben die Normen über den finalen Todesschuss jedenfalls Hinweise. So kann zum Beispiel (4) nicht jeder Eingriff in die körperliche Unversehrtheit zu einer Ausnahme vom Folterverbot führen; aber in Fällen, in denen ein Entführungsopfer etwa in einem Erdloch vergraben ist oder Verstümmelung droht, stellt sich die Lage anders dar. Klar ist anhand der genannten Kriterien, dass Aussageerpressungen in Guantánamo oder Abu Ghraib keine Ausnahme vom Folterverbot rechtfertigen.
Die Gefahr einer mittel- und langfristigen Absenkung der Befolgung der völkerrechtlichen Folterverbote in Nichtrechtsstaaten lässt sich nicht leugnen. Dass eine klar umgrenzte Ausnahme vom Folterverbot jedoch eine erhebliche Schwächung herbeiführt, ist unwahrscheinlich: Unrechtsstaaten haben in der Regel so starke Motive für Repression, dass die Hemmschwelle für die Anwendung von Folter kaum von der Reputation im Rest der Welt abhängt. Aber hier drängt sich ein weiteres Argument gegen die Absolutheit des Folterverbots auf: Das Entführungsopfer, dessen sichere Bedrohung in Leib, Leben und Würde die Polizei beseitigen könnte, aber wegen des absoluten Folterverbots nicht beseitigt, dient sozusagen als Schutzschild für einen guten Zweck: die unsichere, erhoffte Bewahrung der allgemeinen Achtung der Folterverbote. Es wird von der Staatsmacht nur als Mittel eingesetzt. Darin liegt eine Würdeverletzung gegenüber dem Opfer durch Nichtwahrnehmung der Schutzaufgabe im Sinne von Art. 1 I GG. Zwar würde durch die Folter die Würde des Entführers verletzt, aber in einer solchen Situation von Würde gegen Würde kann und muss die Rechtsordnung sich auf die Seite des Opfers stellen und dem Täter die Preisgabe des Verstecks zumuten. Wenn die Rechtsnormen dies ausschließen, dann liegt ungerechtes Recht oder Nicht-Recht vor, und die Staatlichkeit ist in Auflösung begriffen. Justitias Waage ist in Schieflage, und das Schwert gleitet ihr aus der Hand.
Eine Relativierung des Folterverbots wird von Vertretern absoluter, abwägungsfester Normen - "Deontologen" - abgelehnt: "Manche Mittel sind so abscheulich, böse, unmoralisch, dass sie unter gar keinen Umständen benutzt werden dürfen! Deshalb gilt: Folter ist verboten, was auch immer die Folgen für das Opfer oder für uns alle sein mögen!" Diese Position wird von "Konsequentialisten" angegriffen, die der Ansicht sind, eine angemessene, gerechte Entscheidung setze unabweisbar die Berücksichtigung aller absehbaren Folgen voraus.
Wie auch immer der Streit dieser zwei Denkrichtungen zu lösen ist: Soweit Leben/Würde gegen Leben/Würde steht und auf jeden Fall eine Würdeverletzung oder Folter vorliegt - entweder auf der Seite des Entführers oder des Opfers -, führt die deontologische Sichtweise zu einem Unentschieden. Das Patt kann nur durch weitere Argumente aufgelöst werden. Ein Argument ist schon angeführt worden: Opferschutz muss vor Täterschutz stehen. Ferner droht ein Dammbruch, wenn die Rechtsordnung in der geschilderten Ausnahmesituation dem Rechtsbrecher nicht in den Arm fällt. Dann verliert das Recht seine Legitimation für die Monopolisierung der Zwangsgewalt, dann dürften die Bürger für ihren Lebensschutz wieder selbst Zwang anwenden und Privatjustiz üben. Das wäre wirklich ein Rückschritt!
Muss das absolute Folterverbot nicht schon deshalb verteidigt werden, weil das Opfer vielleicht schon tot ist, wie im Fall Jakob von Metzler, oder weil unklar ist, wie der gefasste Erpresser auf körperlichen Zwang reagiert? Für polizeiliches Handeln zur Gefahrenabwehr ist anerkannt, dass es auf die verständige Sicht ex ante ankommt. Wenn die Polizei nach bestem Wissen und Gewissen davon ausgehen durfte, dass das Entführungsopfer noch lebt, dann ist sie zum Lebensschutz verpflichtet.
Was die Zufügung von Schmerzen angeht, so kann man davon ausgehen, dass die meisten Menschen Schmerzen vermeiden wollen. Zudem gilt selbstverständlich der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: Die List steht vor der Täuschung, die Drohung vor der Anwendung; bei der Anwendung sind geringere vor intensiver eingreifenden Mitteln auszuwählen. Schmerzzufügung ist schlimm, mit jedem Akt stirbt nicht nur im Gefolterten, sondern in jedem von uns ein Stück Menschlichkeit, Zivilität und Würde.
Aber Justitias Blick sollte auch das Entführungsopfer sehen: Wenn wir davon ausgehen müssen, dass Untätigbleiben dessen Leiden verlängert und seine Würde attackiert, dann können wir nicht beim "zwanglosen Zwang des besseren Arguments" (Jürgen Habermas) stehenbleiben. Dann müssen wir uns zwischen zwei schlimmen, unmenschlichen, würdelosen Lagen entscheiden: für die zweitschlechteste Lösung! Müssten wir dann im Polizeirecht etwas Unregelbares regeln, Foltermethoden? Eigentlich ja, wenn aber Würde gegen Würde, sozusagen auch Rechtsstaat gegen Rechtsstaat steht, kann man die Normen ausreichen lassen, die im Strafrecht für Notwehr, Nothilfe und den rechtfertigenden Notstand gelten, ergänzt um einen für Polizeibeamte angehobenen Verhältnismäßigkeitsmaßstab sowie, falls möglich, richterliche Aufsicht.
Die Übernahme dieser Entscheidung sollten wir nicht dem moralischen Empfinden der Polizisten überlassen. Wer darauf setzt, dass wir pro forma die Absolutheit des Folterverbots aufrechterhalten, den Polizisten aber moralisch zumuten sollten, das Richtige zu tun, nämlich doch Zwang anzuwenden, in der Erwartung, diese würden rechtlich milde bestraft oder bald begnadigt, verkennt den Ernst der Lage. Wirkt das Folterverbot wirklich absolut, sind Folterakte rechtswidrig. Wann immer ein Polizist daran denkt, trotzdem Schmerz zuzufügen, muss er von seinen Kollegen daran gehindert werden, notfalls mit Gewalt, bis hin zum Todesschuss. Das gilt im Übrigen auch für die Situation, in der ein Bombenleger von der Polizei gefasst worden ist, aber das Versteck der Bombe nicht verraten will, obwohl deren Explosion droht und Tausende von Menschenleben bedroht sind; in einer solchen Lage transformiert das absolute Folterverbot den Rechtsstaat sozusagen zu einem kollektiven Selbstmordpakt.
Sollten wir Polizisten in eine solche Entscheidungsnot bringen? Das ist unmenschlich und zynisch. Entweder gilt das Folterverbot absolut, weil es so angeordnet und auch gerecht ist: Dann bleibt kein Raum für moralisches Verständnis und Hoffen auf Rechtsbruch mit anschließender milder Rechtssanktion. Oder es ist in der genannten Situation evident ungerecht und die Relativierung ist bei näherem Hinsehen schon im geltenden Recht angelegt: Dann muss die Ausnahme interpretativ oder legislativ formuliert werden, damit wir selbst, das gesamte Volk, für Recht und Gerechtigkeit und, wo immer möglich, für Zivilität und Würdewahrung einstehen.
1 'Vgl. auch die
Amtliche Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts -
BVerfGE - Band 56, S. 37, 41ff.'
2 'Vgl. BVerfGE 39, 1, 42; 46, 160,
164f.'