Die Suche nach der Milch erweist sich als erfolglos, stattdessen befördert Kilian aus der Tiefe des fast leeren Kühlschranks ein Päckchen dänische Vanillesoße zutage und stellt es auf den Küchentisch. "Mit dem Einkaufen klappt es zurzeit nicht so gut", sagt der 22-Jährige mit dem Pferdeschwanz und den melancholischen Augen ein wenig entschuldigend. Trotz der Leere im Kühlschrank scheint dem jungen Mann das WG-Leben zu gefallen. "Ich bin noch nicht lange in Berlin und fand es am Anfang gar nicht so einfach, in dieser riesigen Stadt Leute kennen zu lernen", erzählt er. "Da ist die WG schon fast so ein bisschen wie Familie."
Auch für Johanna ist es ganz wichtig, dass "immer jemand da ist. Das bin ich von zu Hause einfach so gewohnt." Die Jurastudentin lebt mit zwei Kommilitonen in einer hübschen, hellen Wohnung im ehemaligen Ostberliner Stadtteil Prenzlauer Berg. Knapp 100 Quadratmeter, Kohleofen, 540 Euro Miete monatlich. "Vor kurzem sind Jascha und Bastian übers Wochen-ende weggefahren. Das habe ich schon genossen", erzählt die junge Frau, die ihr blondes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hat. "Doch nach zwei Tagen war ich echt froh, dass sie wieder da waren."
Mal abends zusammensitzen, über persönliche Probleme reden können - für Kilian und Johanna ein ganz wichtiger Bestandteil des WG-Lebens. Organisierte WG-Abende, Putz- und Einkaufspläne, gemeinsame Unternehmungen aber lehnen sie beide ab. Die Suche nach ein bisschen Familienersatz bei größtmöglicher Unabhängigkeit - für viele junge Menschen scheint diese Kombination ausschlaggebend zu sein bei ihrer Entscheidung fürs WG-Leben.
Und natürlich lässt sich durch das Zusammenleben mit Anderen jede Menge Geld sparen: Die Ausgaben für Telefon, Internet und Fernsehanschluss halbieren sich mindestens, ebenso die Nebenkosten für Strom, Wasser und Müllabfuhr. Den Luxus eines Wohnzimmers, in WGs durchaus üblich, könnten sich viele nicht leisten, wenn sie alleine lebten.
Wie viele Wohngemeinschaften in Deutschland existieren, darüber gibt es keine verlässlichen Daten. Immerhin ist der Anteil der in WGs lebenden Studenten statistisch erfasst. Der 17. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks zufolge lebte 2003 fast ein Viertel der Studierenden in Deutschland - das sind insgesamt etwa 445.000 - in einer Wohngemeinschaft, Tendenz steigend. Und viele Angehörige der "Generation Praktikum", die sich nach ihrem Examen jahrelang von einem prekären Arbeitsverhältnis zum nächsten hangeln, bleiben dort auch lange nach ihrem Studium noch wohnen.
Überhaupt: In einer Zeit, in der die Zahl der Singles ständig zunimmt, ein zunehmend enger Arbeitsmarkt ständige Flexibilität und Mobilität verlangt und sich immer mehr Akademiker mit befristeten Zeitverträgen gerade so über Wasser halten, scheint die WG die ideale, weil bei allem familiären Touch doch unverbindliche und kostengünstige Wohnform. Was in Großbritannien aufgrund der hohen Mieten längst üblich ist - Anfang- und Mittdreißiger, die in WGs zusammenleben -, könnte also auch in Deutschland in nicht allzu ferner Zukunft ein verbreitetes Phänomen sein. Dass ihrem damals revolutionären Wohnmodell ein solch durchschlagender gesellschaftlicher Erfolg beschieden sein würde, das hätten sich die Kommunarden der ers-ten Stunde vermutlich nicht träumen lassen. Allerdings: In einer Zeit, in der die Alt-68er in das Alter kommen, in dem sie über den eigenen Lebensabend und die Gründung von Senioren-WGs nachdenken, hat sich das einst Rebellische der Lebensform WG von selbst erledigt.
Lange vorbei sind die Zeiten, in denen die Entscheidung für das Leben in einer Wohngemeinschaft gleichbedeutend war mit politischer Provokation und Ablehnung (spieß)-bürgerlicher Moralvorstellungen. Familienersatz plus Kostenersparnis plus, im besten Fall, jede Menge Spaß - unter diese Formel lassen sich die meisten der heutigen WGs subsumieren. Gibt es sie überhaupt noch, die politisch bewegte Wohngemeinschaft, die ihr Zusammenleben nicht nur als preiswerte - und sich manchmal unfreiwillig lang hinziehende - Übergangsstation vom Elternhaus zur eigenen Familiengründung begreift?
Die Anzeige im Berliner Stadtmagazin "Zitty" klingt nach Boheme. "Sehr große WG mit mondänem Wohnzimmer, Eckbadewanne, DSL, Klavier, Pokerabenden, Stuck sucht Mitbewohner." Ein Anruf: Nein, es gehe nicht um das freie Zimmer, sondern um eine Reportage zum Thema WG-Leben. Ob ich mal vorbeikommen dürfte? Ich darf.
Von außen, zunächst, Enttäuschung. Berlin-Neukölln, unscheinbares, grau verputztes Haus, nüchterner Treppenaufgang im Hinterhof. Im zweiten Stock soll früher ein Sex-Call-Center seinen Sitz gehabt haben. Heute leben in den 240 Quadratmeter großen, herrschaftlichen Räumen sechs junge Menschen, alle-samt um die Dreißig, fast alle Politikwissenschaftler.
Vier davon erwarten den Gast im Wohnzimmer, in das man durch einen endlos langen Flur und die "Bibliothek" gelangt. In dem fensterlosen Durchgangszimmer stapeln sich die gesammelten Bücher aller Mitbewohner bis unter die Decke. Im Wohnzimmer steht Kaffee bereit, es gibt Zucker, sogar Milch ist vorhanden. Das Klavier neben dem Fernseher und der Lüster an der Stuckdecke verströmen geradezu bürgerliches Ambiente, die beiden klapprigen Sofas, die Kaffeebecher auf dem Tisch und zwei an eine Wand gelehnte Matratzen hingegen WG-Charme.
Auch für Daniel, Lars, Tobias und Peer ist die Funktion der WG als Familienersatz ganz wichtig. "Unsere ausufernde Großfamilie" nennt Daniel ihre Wohngemeinschaft liebevoll. Zu den insgesamt sechs Mietern gehören jeweils noch Freund beziehungsweise Freundin, auch Bekannte und Freunde sind oft zu Besuch. "Im Normalfall sind so um die 20 Leute in der Wohnung", erzählt Tobias.
Doch im Unterschied zu den WGs von Kilian und Johanna ist ihre Wohngemeinschaft auf Dauer und Verbindlichkeit angelegt und beruht auf einer Philosophie des Zusammenlebens, an der die Kommunarden von einst sicherlich ihre helle Freude gehabt hätten. "Wir wollen der Vereinzelung in unserer Gesellschaft etwas entgegensetzen", erläutert Tobias etwas akademisch, aber durchaus überzeugend den Sinn ihrer Wohngemeinschaft. "Die WG kollektiviert die Probleme." Dass sie einem früheren Mitbewohner, der in finanzielle Schwierigkeiten geraten war, ohne zu zögern "gemeinsam unter die Arme" gegriffen haben - man glaubt es sofort.
Als dezidiert politisches Projekt wollen die vier ihre WG zwar nicht verstanden wissen Doch in der Tradition der ersten Kommunen sehen sie sich durchaus und liebäugeln immer wieder mit vielen ihrer Ideen. "Eine Zeitlang haben wir intensiv darüber diskutiert, die Türen zu unseren Zimmern auszuhängen", erzählt Lars. "Aber das haben wir dann doch lieber bleiben lassen."
Trotz dieser Entscheidung pro Privatsphäre: Sind in einer solchen Riesen-WG Reibereien nicht programmiert? Die vier überlegen kurz. "Eigentlich sind wir schon seit einem Jahr nicht mehr richtig aneinander geraten", sagt schließlich Daniel, der gerade mit seiner Doktorarbeit über den Krieg gegen den Terrorismus begonnen hat.
Potenziellen Streitigkeiten begegnen sie mit einem ausgeklügelten Konfliktmanagementsystem - angewandte Politikwissenschaft sozusagen. Die selbst gebastelte "Putzuhr" mit dem Karl-Marx-Konterfei, die den Grad der Dringlichkeit, zu Schwamm und Besen zu greifen, mit verschieden farbigen Wäscheklammern veranschaulicht - ein "Konzept der Nachhaltigkeit mit Frühwarnsystem". Der sich 14-tägig mit dem "WG-Plenum" abwechselnde "WG-Wohlfühlabend" - eine Form der "Entspannungspolitik". Für bestimmte gemeinschaftlich organisierte Bereiche gibt es ganz offiziell feste Ansprechpartner, wie den "Telekommunikationsminister" oder den "Finanzminister". Außerdem wird jeden Monat einmal ein "Held der Arbeit" aus dem WG-Kreis gekürt. Sogar gemeinsam Urlaub hat die WG samt Anhang schon gemacht - Kanu fahren in Masuren -, und für größere Anschaffungen gibt es ein gemeinsames Konto.
Und wenn sie irgendwann einmal einen festen Job und Kinder haben? Lockt dann nicht doch das Einfamilienhaus am Stadtrand? Die vier auf dem Sofa schütteln die Köpfe. Das Konzept der bürgerlichen Kleinfamilie finden die Kommunarden - fast allesamt Scheidungskinder - grundsätzlich nicht überzeugend. Familie und WG - das schließt sich ihrer Meinung nach keineswegs aus.
Klar, die "Zentrifugalkräfte des heutigen Arbeitsmarktes" bekämen auch sie mit Sicherheit irgendwann zu spüren, meint Daniel in schönstem Soziologendeutsch. Aber wenn es nach ihnen ginge, würden sie am liebsten für immer zusammenbleiben. Klingt fast zu schön, um wahr zu sein. Da erzählt Tobias mit einem Augenzwinkern von einem früheren Mitbewohner, der nach vielen Jahren und einer persönlichen Krise aus der WG ausgezogen sei, weil ihm das Konzept nicht mehr gepasst habe. "Das war ein Abnabelungsprozess wie in einer Familie. Vor allem Daniel und ich hatten damit zu kämpfen, weil wir uns jahrelang quasi als seine ‚Eltern' gefühlt haben." Den ganz normalen Beziehungs- und Familienproblemen scheint also niemand zu entkommen, selbst diese Bilderbuch-Wohngemeinschaft nicht. Wahrscheinlich ist es aber genau das, was sie so sympathisch macht.