Rund 5.000 wütende Menschen demonstrierten im Stadtzentrum. "Blair ist ein Mörder" oder "Der Libanon ist frei, Blair verschwinde" stand auf ihren Plakaten. Der Gesprächsrunde mit dem Regierungskabinett blieben die zwei Minister, Mohammed Fneish und Tarrade Hamadeh, der Hisbollah und Amal fern. Der schiitische Parlamentspräsident Nahib Berri ließ sich entschuldigen, er sei gerade "nicht in der Stadt" und könne leider den Termin mit dem britischen Premierminister nicht wahrnehmen. Hassan Nasrallah, der Generalsekretär der Hisbollah, beschuldigte Premier Siniora mit dem Empfang von Tony Blair ein "nationales Desaster" provoziert zu haben. Im Editorial der angesehenen Beiruter Tageszeitung "Daily Star" fragte man sich, warum der Besuch Blairs nicht einfach abgesagt wurde. "Es gab dafür keinen nennenswerten Grund und das Resultat ist nur Ärger und Zorn". Schließlich habe der britische Premierminister einen sofortigen Waffenstillstand verschleppt und obendrein den US-Waffenlieferungen an Israel über Flughäfen in Großbritannien grünes Licht gegeben. "Für Bomben, die die Israelis später auf unschuldige, libanesische Frauen und Kinder warfen." Das Editorial des "Daily Star" spiegelt die populäre Meinung im Libanon wieder. Sie beschränkt sich nicht nur auf die schiitische Zivilbevölkerung, die am meisten unter den israelischen Bombardierungen leiden mussten. Auch viele Sunniten, Christen und Drusen des ethnisch und religiös so zersplitterten Landes, teilen diese Meinung. Das israelische Militär machte es allen einfach. Knapp 1.200 getötete Zivilisten sprechen für sich. Zum dritten Mal, nach den Invasionen von 1978 und 1982, beging Israel in den Augen der Menschen erneut Massaker an der Bevölkerung, die im Libanon nicht vergessen werden. "Israel hat mit diesem Krieg erneut eine Erinnerung des Hasses geschaffen", sagt Iman Humaidan Junis, eine bekannte libanesische Autorin und Journalistin. "Israel ist eine kalte Macht, die auf menschliche Werte keine Rücksicht nimmt". Diese "Erinnerung des Hasses" erleichtert es der Hisbollah, Sympathien bei Menschen anderer politischen und religiösen Gruppierungen zu erlangen. Außerdem fällt es ihren politischen Partnern nun einfacher, ein Bündnis mit der schiitischen Organisation zu rechtfertigen. Michel Aoun, der Vorsitzende der christlichen Freiheitlichen Patriotischen Bewegung, bekräftigte während und nach Ende des Krieges seine bereits vor Monaten geschlossene Allianz mit Hisbollah. Gemeinsam wurde vor wenigen Tagen der sofortige Rücktritt der Regierung von Premierminister Fuad Siniora gefordert. Hisbollah und die Freiheitliche Patriotische Bewegung repräsentieren zusammen knapp über die Hälfte der libanesischen Bevölkerung. Michel Aoun macht sich so Hoffnungen auf das Amt des Staatspräsidenten. Den wesentlich einflussreicheren Posten des Premierministers kann der Ex-General nicht übernehmen. Er ist einem Sunniten vorbehalten, denn im Libanon werden alle politischen Ämter nach religiösen Kategorien vergeben. Die Position des Parlamentspräsidenten kann demanch nur ein Schiit bekleiden und die Sitze im Parlament sind jeweils zur Hälfte mit Moslems und Christen zu besetzen. Eine Regelung, die nach dem 15-jährigen Bürgerkrieg (1975-1990) im Taif-Abkommen 1989 festgelegt wurde. Die paritätische Aufteilung entspricht jedoch nicht mehr der aktuellen Demografie des Landes. Der letzte Zensus fand 1932 statt. Heute kann nur geschätzt werden, wie sich die knapp 4 Millionen Einwohner nach religiösen Gemeinschaften aufteilen. Die Schiiten, einstmals nur 20 Prozent, dürften auf etwa 35 bis 38 Prozent herangewachsen sein. Die Christen, früher Bevölkerungsmehrheit, sind unter die 40 Prozent-Marke gefallen. Sunniten liegen bei etwa 20 Prozent und die islamische Sekte der Drusen bei 5 Prozent. Eine seit langem überfällige Reform des Wahlrechts hatte die 2005 neu gewählte Regierung angekündigt. Durch den Krieg dürfte dieses Vorhaben erst einmal auf unabsehbare Zeit verschoben sein. Im Libanon ist Politik von traditionellen Clanstrukturen geprägt. Niemand will auf seine althergebrachten Vorteile und Privilegien verzichten. Michel Aoun bekam das gleich spüren, als er nach seinem 15-jährigen Exil in Frankreich zurückkehrte. Er plädierte für eine uneingeschränkte, radikale Bekämpfung der Korruption, die im Libanon seit Jahrzehnten auf allen Ebenen der Gesellschaft und Politik unglaubliche Blüten treibt. Dafür fand Aoun, außer bei der Hisbollah, keine Mitstreiter. Nach der im Westen apostrophierten "Zedernrevolution" und dem Abzug der syrischen Truppen aus dem Libanon fanden im Mai 2005 die ersten freien Parlamentswahlen statt. Das anti-syrische Demokratiebündnis von Saad Hariri mit seiner Zukunftspartei und Walid Jumblatt, dem Vorsitzenden der Progressiven Sozialistischen Partei, wollte Michel Aoun nicht in die gemeinsame Wahlliste aufnehmen. Der Ex-General, der ebenfalls ein erbitterter Gegner syrischer Hegemonie ist, hatte angeblich zu viele Parlamentssitze für sich gefordert. Um politisch nicht unterzugehen, musste Aoun notgedrungen mit pro-syrischen Parteien koalieren und gewann dabei mehr Sitze im Parlament, als er gefordert hatte. Der Wahlkampf der "Zedern-Revolution" verlief wenig demokratisch. Im alles entscheidenden Wahlkreis im Nordlibanon soll Saad Hariri, der nach der Ermordung seines Vaters Rafik im Februar 2005, das Milliarden-Imperium erbte, alleine 3 Millionen Dollar investiert haben. Im libanesischen Fernsehen und verschiedenen Tageszeitungen wurden Schecks gezeigt, mit denen Wahlstimmen gekauft wurden. Der 36-jährige Saad Hariri ist der einflussreichste Geschäftsmann des Landes. Neben seiner Zukunftspartei, unterhält er den "Zukunftsfernsehsender" und die "Zukunftszeitung". Finanzberater und Anwälte des Hariri-Imperiums sind Ex-Minister der Finanzen und Justiz. Ein Teil der Schuldenlast des libanesischen Staates wird von der Hariri eigenen Finanz- und Kreditfirma, Groupe Mediterrane, getragen. Das gesamte Stadtzentrum von Beirut, das nach dem Bürgerkrieg aufwändig und originalgetreu wieder aufgebaut wurde, ist im Besitz diverser Familienfirmen. Während des Kriegs weilte Saad Hariri in Frankreich und in Kuwait. Neben Saad Hariri ist der Drusenführer Walid Jumblatt die populäre Galionsfigur der anti-syrischen Allianz. Nur mehr selten verlässt der Sozialistenführer sein schlossähnliches Anwesen in den Chouf-Bergen, nachdem bei einer Reihe von Bombenattentaten in Syrien kritische Journalisten, wie Samir Kassir und Gibran Tueini, ums Leben kamen. Für Walid Jumblatt waren die Demonstrationen beim Besuch des britischen Premierministers nur ein Versuch, die Regierung von Fuad Siniora zu stürzen. "Man will die Bildung des internationalen Tribunals verhindern, das den Mord am libanesischen Ex-Premierminister Rafik Hariri aufklärt", sagte Jumblatt in seinem Garten vor Studentenvertretern. Hisbollah müsse entwaffnet werden und die Regierung volle Souveränität über das gesamte Staatsgebiet erhalten. "Die libanesische Armee ist die einzig legitimierte Sicherheitsinstitution des Landes", erklärte Jumblatt. "Die UN-Resolution 1701 muss erfüllt werden." Walid Jumblatt, das Oberhaupt der islamischen Sekte der Drusen, ist eine schillernde Figur. Er ist bekannt dafür, seine Meinung und politischen Freunde je nach Vorteilslage zu wechseln. 2004 war er ein Unterstützer des "bewaffneten Widerstands der Hisbollah", treuer Verbündeter Syriens und erklärter Feind der USA. Öffentlich bedauerte er damals, als ein Attentat auf den US-Vizeverteidigungsminister Paul Wolfowitz im Irak fehlschlug. Die US-Botschaft in Beirut entzog ihm daraufhin sein Visum für die USA. Heute präsentiert sich Jumblatt als enger Verbündeter Washingtons und strikter Gegner Syriens und der Hisbollah. Kein Wunder, dass Ali Ammar, einer der Parlamentsabgeordneten der Hisbollah, bei einer Kundgebung in den zerstörten Stadteilen Südbeiruts die anti-syrische Koalition der "Kollaboration mit dem Feind Israel" beschuldigte. In erster Linie dürfte er damit Walid Jumblatt gemeint haben, der unmittelbar nach dem Kriegsbeginn am 13. Juli von "einem Stellvertreterkrieg im Namen des Irans gegen die USA auf libanesischem Boden" gesprochen hatte. "Aber niemand kann den bewaffneten Widerstand ermorden", erklärte Ali Ammar martialisch auf der Kundgebung in Südbeirut. "Der Widerstand wird seine Waffen behalten." Nach dem militärischen Erfolg über Israel, der Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah zum pan-arabischen Helden machte, fühlt sich Hisbollah im Aufwind. "Sie sind so stark, wie nie zuvor", bestätigt Amal Saad Ghorayeb, Professorin an der Libanesisch-Amerikanischen Universität in Beirut. "Bei Hisbollah wird nicht im Geringsten darüber nachgedacht, die Waffen aufzugeben." Die libanesische Regierung könne Hisbollah nicht zur Aufgabe ihrer Waffen zwingen. Etwas, das nicht einmal Israel geschafft hat. Sollte die Regierung es dennoch versuchen, "werden die zwei Hisbollah-Minister aus dem Kabinett ausscheiden, und die Regierung zerbricht", erklärt Ghorayeb. Die Stationierung der UN-Truppen ändert nach Meinung von Amal Saad Ghorayeb am Status Quo wenig. "Militärische Operationen an der israelischen Grenze werden schwieriger, aber ganz sicher nicht unmöglich", meint die Hisbollah-Spezialistin. Nicht vergessen dürfte man auch, dass die libanesische Armee zu 60 Prozent aus Schiiten besteht, die Familienmitglieder und Freunde bei der Hisbollah haben. Das "robuste Mandat" der UNIFIL-Truppe wird bei weitem nicht ausreichen, um Anschläge zu verhindern. Das Gelände im Südlibanon ist zu unübersichtlich, die Bunkeranlagen der Hisbollah zu versteckt und die Unterstützung bei der Bevölkerung zu groß. Es wird wie in den letzten Jahren mit den UNIFIL-Truppen zu einem pragmatischen "Gentlemen-Agreement" führen: Man mischt sich nicht in fremde Angelegenheiten ein. Ganz abgesehen von den Langstreckenraketen, die im Besitz der Hisbollah sind. Die Abschussrampen der 30 bis 100 Zelal-2 Raketen iranischer Bauart liegen irgendwo in den libanesischen Bergen, außerhalb der Kontrolle der UN-Soldaten. Diese Raketen können bis zu 600 Kilogramm Sprengstoff tragen und mit einer Reichweite von 200 Kilometern noch Ziele tief im Süden Israels treffen. Das Argument, UN-Truppen würden den Waffenschmuggel unterbinden, ist ebenfalls wenig plausibel. Schwere Waffen, die bei einem Transport auffallen, sind bereits im Libanon. Hisbollah hat von ihren auf etwa 15.000 geschätzten Lagerbeständen von Katjuscha-Raketen nur etwa 2.000 verschossen. Neuere Raketen-Modellen kamen nur vereinzelt zum Einsatz. Darunter die "Waad-Rakete", mit der am letzten Kriegswochenende ein israelischer Hubschrauber, sowie einige Panzer zerstört wurden. In nur zwei Tagen hatten die israelischen Streitkräfte so viele Verluste, wie in den vorangegangenen vier Wochen zusammen. Leichte, aber selbst auch schwere Waffen können immer geschmuggelt werden, ob es nun UN-Truppen an der syrischen Grenze oder auch Schiffe vor der libanesischen Küste gibt. Waffenhandel kennt bekanntlich keine Grenzen und findet immer Mittel und Wege seine tödliche Fracht an den Bestimmungsort zu bringen. Die Effektivität der UN-Truppen ist äußerst fraglich und man könnte die Stationierung fast als symbolischen Akt verstehen. Nicht umsonst zeigt sich Hisbollah völlig gelassen. Für sie dürfte es auch symptomatisch sein, dass so viel Aufwand ausgerechnet auf ihrer Seite der Grenze betrieben wird, obwohl Israel 18 Jahre lang den Südlibanon besetzt hielt und seit dem Abzug seiner Truppen 2000 die territoriale Souveränität des Libanons über 3.000 Mal zu Land, Wasser und in der Luft verletzte. Bei Hisbollah gibt es, ebenso wenig wie in Israel, Interesse an weiteren bewaffneten Auseinandersetzungen. Stellungen an der Grenze zu den von Israel besetzten "Shebaa-Farmen" wurden aufgegeben und von Bulldozern zugeschüttet. Für den erklärten "Widerstand" geht es nun einmal um die Verhandlungen über einen Gefangenaustausch der beiden israelischen Soldaten, mit deren Entführung am 12. Juli der Krieg begann. Man hofft auf einen neuerlichen, Propaganda wirksamen Triumphzug durch Beirut. Ähnlich wie im Januar 2004, als Tausende von Menschen die Straßen der Hauptstadt säumten, um die befreiten Gefangenen aus israelischer Haft zu empfangen, die nach deutscher Vermittlung gegen einen israelischen Geschäftsmann und drei tote israelische Soldaten frei gekommen waren.