Das Parlament: Frau Weber-Hassemer, was bedeutet Ethik für Sie persönlich?
Weber-Hassemer: In der Theorie wird zwischen Ethik und Moral unterschieden. Moral ist etwas, das uns in der täglichen Praxis begegnet; unsere Werte und unser Handeln bestimmt. Das ist im Allgemeinen individuell. Dabei geht es etwa um Fragen wie "Darf man ein Kind schlagen?" oder "Was schulde ich meinen Eltern, wenn sie alt und schwach sind?" Ethik ist dann die Reflexion über solche moralischen Haltungen; die eher theoretische Herangehensweise. In der Praxis werden die beiden Begriffe aber häufig nicht unterschieden.
Das Parlament: Gibt es eine übergreifende Ethik für die Menschen, die in diesem Land leben?
Weber-Hassemer: Wir haben einen starken moralischen Pluralismus - im Grunde sind das verschiedene "Moralen". Trotz dieser Verschiedenheit eint uns vieles. Unsere moralischen Urteile basieren sehr stark auf christlichen Werten, auf der europäischen Aufklärung und auf den geschichtlichen Erfahrungen. Auch unser Grundgesetz mit seiner Verankerung der Menschenrechte ist sehr verbindlich - viele Menschen, auch die, die nicht mit dem sprichwörtlichen "Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen", wachsen in diesem Land mit demokratischen Grundwerten auf und haben die Prinzipien, die ihnen zugrunde liegen, verinnerlicht.
Das Parlament: Dennoch wird oft ein Mangel an Werten beklagt, der zudem weiter zunehme.
Weber-Hassemer: Ich bin nicht so sicher, ob das so stimmt. Wir sind natürlich sehr viel ärmer an alt vertrauten Riten, die Werte symbolisieren, als das frühere Generationen waren. Dazu kommen neue, noch fremde Riten, die oft künstlich wirken - denken Sie an Halloween. Ich stimme der Aussage zu, dass wir weniger traditionell sind, aber dass wir weniger werteorientiert sind, bezweifle ich. Die Werte treten nur weniger offen zutage, weil sie als eher individuelle nicht so deutlich kommuniziert werden.
Das Parlament: Wie stark wirken sich Begegnungen mit anderen Kulturen auf unser Werteverständnis aus?
Weber-Hassemer: Diese Begegnungen sind wichtig und schwierig. Wir müssen zum einen versuchen, wissbegierig zu bleiben; uns dafür zu inte-ressieren, was in anderen Kulturen und Religionen gedacht und gelebt wird. Das erfordert Toleranz und Offenheit. Andererseits dürfen wir auch die eigene Orientierung und unsere kulturelle oder religiöse Identität nicht vergessen. Ich kann verstehen, wenn viele Menschen Angst vor dem Fremden haben und sich deshalb am Althergebrachten orientieren. Das ist die Suche nach einem Anker. Mit Rückbesinnung kann aber auch produktive Neuorientierung einhergehen.
Das Parlament: Glauben Sie, dass die Menschen, trotz aller Unterschiede, bestimmte universelle Werte teilen?
Weber-Hassemer: Ich fürchte, eher nein. Fast alle Staaten - ob Diktaturen oder Demokratien - erkennen zwar theoretisch die universale Geltung der Menschenrechte an. Aber in der Wirklichkeit bedeutet das sehr häufig etwas Verschiedenes. In den westlichen Gesellschaften haben wir seit langem - und in den frühen Menschenrechtserklärungen der amerikanischen und französischen Revolutionen formuliert - den Menschenrechtsgedanken. Weltweit gilt dies aber erst seit der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" von 1948 der Vereinten Nationen. Sie und ihre Unterorganisationen bemühen sich, die Menschenrechte als Legitimationserfordernis staatlicher Herrschaft zu verankern. Aber wir sehen eben immer wieder, wie wenig sie, in unserem Verständnis, wirklich eine Rolle spielen.
Das Parlament: Haben nicht alle Staaten gewisse ethische Spielregeln?
Weber-Hassemer: Fast alle westlichen Staaten, zunehmend auch manche asiatischen und osteuropäischen aus der ehemaligen Sowjetunion, bemühen sich auch um ethische Fundierung und installieren ethische Beratungsgremien in verschiedenen Bereichen. Moderne Gesellschaften sind sehr komplex geworden, und es gibt immer mehr Fragen, nicht zuletzt im Bereich der Forschung, die nicht im Vorbeigehen behandelt und gelöst werden können. Vor allem reicht der gesunde Menschenverstand nicht aus, um ethisch fundierte Bewertungen von folgenreichen Entwicklungen abgeben zu können Die Politik sieht sich mit einer Fülle solcher Fragestellungen konfrontiert, für deren Beantwortung sie weder die personellen noch die zeitlichen Ressourcen zur Verfügung hat. Deshalb gibt es Themen, die zur Vorbereitung eigener Entscheidungen, aber auch zur Steigerung öffentlicher Diskurse an Expertengremien, im Falle der Biomedizin an Ethikgremien, delegiert werden. Dort hat man die Chance, sich länger und gründlicher damit auseinander zu setzen und Lösungen zu entwickeln.
Das Parlament: In Deutschland hatte es der Rat anfangs schwer.
Weber-Hassemer: Das stimmt. Grundsätzlich waren wir immer wieder mit der Sorge konfrontiert, das politische System könne zu viele Entscheidungen delegieren, für die es aber später selbst verantwortlich ist. Stichwort: Expertokratie. Aber wir sind ja international und auch auf nationaler Ebene beleibe kein Einzelfall, denken Sie an etwa den Nachhaltigkeitsrat oder den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, den es schon seit 1963 gibt. Dem Ethikrat wurde oft unterstellt, er sei eine Instanz, die per se richtiges Handeln für sich reklamiert. Doch irgendwann wurde wahrgenommen, dass der Nationale Ethikrat nie der Versuchung erlegen ist, sich als moralische Instanz aufzuspielen oder Entscheidungsmacht für sich zu reklamieren. Damit hat das Renommee des Gremiums zugenommen.
Das Parlament: Wie haben Sie die Arbeit im Ethikrat in den vergangenen fünfeinhalb Jahren persönlich empfunden? Welches Fazit ziehen Sie daraus?
Weber-Hassemer: Für mich war es ein unglaublicher Gewinn. Normalerweise kommt man beruflich nicht so interdisziplinär zusammen - im Ethikrat hatte ich die Möglichkeit, mit Naturwissenschaftlern genauso wie mit Geisteswissenschaftlern, Theologen und Vertretern verschiedener gesellschaftlicher Gruppen zu diskutieren, Einblicke zu gewinnen und gemeinsam Lösungen zu erarbeiten. Diese Interdisziplinarität ist der enorme Vorteil eines solchen Gremiums. Und mein Fazit? Ich würde mir wünschen, dass unsere Gesellschaft weder aus Angst heraus bestimmte Tabus festzurrt, noch eine Laissez-faire-Haltung einnimmt. Speziell der Bereich der Biomedizin verändert unsere Gesellschaft - zwar in kleinen Schritten, aber unweigerlich. Dafür müssen wir Aufmerksamkeit gewinnen. Die Öffentlichkeit sollte in der Lage sein, auch auf diesem Themengebiet eigene Urteile fällen zu können, die auf Sachkenntnis beruhen. Das Neue sollte nicht nur als etwas Bedrohliches wahrgenommen werden, sondern als eine Entwicklung, mit der man umgehen muss und kann, Reflexionen über die ethischen Implikationen sind unumgänglich.
Das Interview führte Susanne Kailitz