Der Österreichische Rundfunk hat vor einiger Zeit eine Sendung ausgestrahlt, in der sich Professoren darüber Gedanken gemacht haben, weshalb die Menschen so viel Energie darauf verwenden, anderen Menschen etwas vorzumachen. Es fiel auf, dass die Wissenschaftler - die überwiegende Mehrheit waren Philosophen - ihre Theorien von den Scheinheiligen und den Lügnern, von den Wasser-Predigern und den Wein-Trinkern immer an der selben Art von Leuten anschaulich zu machen versucht haben, nämlich an Kirchenmännern, Sektenpredigern, Betschwestern, Gurus, Heilsarmisten, Wirtschaftsbossen und Politikern.
Sie alle sind stark gefährdet, behaupten die Philosophen. Im Leben und Wirken dieser Menschen liegen Schein und Sein schon mal weit auseinander, sie alle sind nicht davor gefeit, dass sie mal links blinken und rechts abbiegen, sie alle sind moralisch stark herausgefordert.
Die Beispiele in der Sendung stammten alle aus Österreich, aber es lassen sich leicht Beispiele aus Deutschland finden. Den Siemens-Vorstand, der seine Bezüge erhöht und zugleich von der Belegschaft Verständnis für Massenentlassungen einfordert. Den ehemals sozialdemokratischen und jetzt quasi-sozialistischen Politiker, der seinen persönlichen Lebensstil lieber kapitalistisch ausrichtet. Den Finanzminister, der, vorzüglich altersversorgt, den Bürgern rät, doch mal auf einen Erholungsurlaub zu verzichten, um der Altersarmut zu entgehen. Den Topmanager aus der Autofabrik, der bei seinem Ausflug in die Politik den Sozialstaat sanieren wollte und in der Firma jahrelang Teil eines Systems mit der Bezeichnung "Saus und Braus" war. Es gibt die Musterfälle überall auf der Welt. Zum Beispiel den Kongressabgeordneten, der den Homosexuellen Höllenqualen wünscht und sich die Last des Alltags von einem Callboy wegmassieren lässt.
Sind die Scheinheiligen schlimmer oder die moralischen Grenzgänger? Da stellt ein CDU-Politiker die menschliche Eignung eines Ministerpräsidenten für dieses Amt in Frage, weil dieser sich - mehrfach - von einer Frau getrennt hat, um eine andere zu nehmen. Nun ist der Mann selbst Ministerpräsident und trennt sich alsbald von seiner Frau, um eine andere zu nehmen. Gilt das moralische Urteil von früher jetzt nicht mehr? Wie soll der Bürger über die grünen Promis denken, die den Autofahrern ein schlechtes Gewissen nahe legen, aber schnell nervös werden, wenn der Dienstwagen mit Chauffeur nicht sofort zur Stelle ist? Was ist von sozialdemokratischen Kultusministern zu halten, die die Gesamtschule für alle fordern, ihre eigenen Kinder aber auf teure Privatschulen schicken? Was ist mit den Abgeordneten, die im Haushalt nichts mehr zum Sparen finden, aber regelmäßig in der dunklen Jahreszeit die vom Aussterben bedrohten Wombats in Australien besuchen oder den öffentlichen Nahverkehr der Malediven zum Vergleich mit den einheimischen Omnibussen heranziehen müssen?
Weit sind die Philosophen in der Radiosendung in die Geistesgeschichte hinabgestiegen, um ihre Hörer am Ende nicht ohne Trost allein zurück zu lassen. Bei Friedrich Nietzsche, in den "Nachgelassenen Fragmenten", sind sie fündig geworden. Sektenprediger, Politiker und all die anderen Menschheitsbeglücker, sagt der elitäre, antidemokratische Philosoph, müssen Lebenslügen aufbauen, wenn die Wahrheit zu hart, zu unbarmherzig daherschreitet: "Der Wille zum Schein, zur Illusion, zur Täuschung, zum Werden und Wechseln ist tiefer, ,metaphysischer' als der Wille zur Wahrheit, zu Wirklichkeit, zum Sein: die Lust ist ursprünglicher als der Schmerz." Wer es ein wenig näher am Zeitgeist haben möchte, der tröstet sich so: Die Scheinheiligkeit bestimmt die Welt, und die Welt fährt anscheinend ganz gut damit.
Der Autor ist langjähriger Hauptstadt-Korrespondent der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung" und Autor einer Biografie von Altkanzler Gerhard Schröder.