Der Weihrauchnebel der wohlgesetzten Worte ist verweht. Auch wenn sogar der Bundespräsident zum 50. Geburtstag des Presserats als Festredner antrat, so kann dies nur notdürftig darüber hinwegtäuschen, dass das Selbstkontroll-Organ der deutschen Presse vor bisher nicht bewältigten Herausforderungen steht: Die Zahl der Beschwerden steigt rapide - mit Sondereffekten in diesem Jahr auf rund 1.000 - an und treibt die ganz überwiegend ehrenamtlichen Wächter der journalistischen Berufsethik an den Rand ihrer Arbeitskapazitäten. Die Flut der Beschwerden spiegelt vor allem einen massiven Glaubwürdigkeitsverlust der Presse in der Bevölkerung wider.
Dafür gibt es eine ganze Reihe von Ursachen. Zu viele namhafte Verlage bemühen schon jetzt im Fall einer Missbilligung oder Rüge eher die Juristen, anstatt in sich zu gehen und dafür zu sorgen, dass dergleichen künftig nicht wieder vorkommt. Dem Gesetzgeber und den Gerichten scheint der Glaube an eine wirksame publizistische Selbstkontrolle weitestgehend abhanden gekommen zu sein. Eine Selbstkontrolle, die eigentlich staatliche Kontrolle überflüssig machen kann und soll. Den Anstrengungen des Presserats ungeachtet wird mehr denn je die Metapher vom "zahnlosen Tiger" bemüht, in der sich zugleich Unbehagen an dem als unerträglich empfundenen Vollzugsdefizit sowie Respektlosigkeit vor der Macht des Wortes und der Kollegenschelte entladen.
Journalisten wissen gemeinhin, was ethisch richtig oder falsch ist - bei Politikern, Kirchenfürsten oder Wirtschaftsführern. Über den Pressekodex oder gar das Presserecht wissen sie auch 50 Jahre nach Gründung des Presserats allzu oft weniger als Fahranfänger über die Straßenverkehrsordnung. Obwohl keiner bezweifelt, dass ein gewisses Grundwissen auf diesen Gebieten vor Persönlichkeitsrechtsverletzungen und dem damit unweigerlich verbundenen Risiko gerichtlicher Inanspruchnahme schützen könnte. Wie Dorian Gray blendet die Presse in ihrem alltäglichen Selbstbild nur zu gern die eigenen Abgründe und Fehlgriffe aus und schaut gebannt, wenn ihr ausnahmsweise -zum Beispiel im laut "FAZ" einflussreichsten Blog Deutschlands, "bildblog.de", oder in einem von einem Promi-Anwaltsduo publizierten juristischen Wälzer mit dem wahrlich nicht mitreißenden Titel "Medienrecht. Die zivilrechtlichen Ansprüche" der Spiegel vorgehalten wird - obwohl der ja, wie jeder allmorgendlich wieder erlebt, eigentlich nichts wesentlich Neues zeigt.
Fried von Bismarck, in Ämterunion zugleich Verlagsleiter des "Spiegels", Sprecher des Presserats und langjähriges Mitglied eines Beschwerdeausschusses, hat Aufgabe und Selbstverständnis der ausschließlich an der journalistischen Berufsethik orientierten publizistischen Selbstkontrolle recht pointiert ausgedrückt: "Das ist wie in einer Familie mit vielen Kindern, wo eben die Schwester zum Bruder sagt: 'Nimm die Finger aus der Suppe."
Ethik ist also das, was Journalisten oder Verleger anständigerweise mit Rücksicht auf ihren guten Ruf lieber tun oder lassen. Dabei gibt es zwar Schnittmengen zum Presserecht, aber auch sensiblere Anforderungen: Der Pressekodex beispielsweise sanktioniert es, wenn in Artikeln über Straftaten ohne sachlichen Grund die Zugehörigkeit des Täters oder Verdächtigen zu einer Minderheit diskriminierend hervorgehoben wird. Das Äußerungsrecht geht dagegen erst in Stellung, wenn dergleichen beispielsweise in eine Volksverhetzung oder Beleidigung ausartet.
Das Recht interessiert sich also naturgemäß weniger für die Finger, die familienintern in die Suppe langen oder für das, was gemeinhin als "anständig" oder "geschmackvoll" gilt, als vielmehr für die, die im Restaurant ihr Gammelfleisch-Süppchen kochen und als ungetrübte Qualität verscherbeln. Nicht alles was rechtens ist, ist ethisch korrekt. Während gegen Gammelfleisch der Staat bemüht und das Recht notfalls durch Gerichtsvollzieher und Polizei durchgesetzt werden kann, bekommen die Ethiker aber ein erhebliches Problem, wenn der gescholtene Bruder auf Durchzug schaltet oder seiner Schwester über den Kopf wächst. Womit wir beim notorischen Hauptarbeitgeber der Presseethiker, bei "Bild", seinem Chefredakteur Kai Diekmann und dessen oberstem Dienstherrn, dem Axel Springer AG-Vorstand Mathias Döpfner wären. Nehmen sie - beispielsweise und pointiert gesagt - die Meinung einer bloß halbtags tätigen, jungen Medienredakteurin einer kleinen westfälischen Regionalzeitung ernst, die nebenbei ehrenamtlich als Mitglied des Beschwerdeausschusses des Presserats über gut und schlecht befindet und im Verhältnis zu Diekmann, Döpfner & Co. wohl kaum mehr verdient als deren Putzfrau? Die Indizien sprechen leider dagegen: Keine Zeitung kassiert nachhaltig mehr, regelmäßiger und unbeeindruckter Rügen als die "Bild"-Zeitung. Und kaum eine Zeitung macht es dem Presserat in letzter Zeit hinter den Kulissen wohl so schwer. Wenn sich Döpfner, wie der "Kölner Stadtanzeiger" berichtete, während der Jubiläumsfeier des Presserats in Berlin bei einer Podiumsdiskussion zur Selbstkontrolle kurz zu Wort meldet, sagt, es sei gespenstisch, wie sehr das Internet ausgeklammert werde, und dann schon wieder verschwunden ist, ehe das Gespräch über eine Kompetenzerweiterung des Presserats überhaupt richtig losgeht, so bekommt er, einer der mächtigsten Medienmänner der Republik, dafür vordergründig zwar den höflichen Applaus der Branche. Aber als öffentliches Eintreten für die Selbstkontrolle durch den Presserat - wie die Konzernsprecherin der Axel Springer AG, Edda Fels, seine Einlassung in professioneller Manier notgedrungen gedeutet wissen will - mag das wohl kaum ein Insider für glaubhaft halten. Dafür setzt der größte deutsche Zeitungskonzern trotz an den Pressekodex angelehnter eigener publizistischer Leitlinien zu viele Akzente, um die Autorität des Presserats zu unterminieren. Springers Dukatenesel "Bild" lässt sich nicht nur über Gebühr Zeit, trotz Selbstverpflichtung die kassierten Rügen abzudrucken, die das Blatt als - wie "Die Zeit" bitter spottet - "führende Ethikschrift" magnetisch auf sich zieht. Wohl um Verzögerungen zu legitimieren und die Ethik-Wächter durch juristische Scharmützel mürbe zu machen und abzuschrecken, bedient sich der Verlag inzwischen sogar der Dienste einer nun als Medienanwältin tätigen ehemaligen Geschäftsführerin des Presserats - was in einschlägigen Kreisen zumindest wohl als delikate Verlagstrategie aufgefasst wird. Zudem untergräbt Springer mittelbar nicht nur die finanziellen Grundlagen der publizistischen Selbstkontrolle. Die auflagenstarken Berliner Springer-Blätter "BZ" und "Berliner Morgenpost" sind aus dem Berliner Zeitungsverleger-Verband und damit auch mittelbar aus deren Bundesverband ausgetreten, der seinerseits zu knapp 40 Prozent den Presserat finanziert. Das ist umso prekärer, als das Presserat-Etikett "publizistische Selbstkontrolle" auf einem Gremium klebt, das Verleger und Journalisten schon bisher nicht einmal selbst vollständig zahlen, sondern sich seit über 30 Jahren systemwidrig durch den Staat zu derzeit immerhin rund einem Drittel subventionieren lassen. Wie sehr Presseethik und Presserecht in Konflikt miteinander geraten können, spiegelt sich in Versuchen von Verlagen wider, dem Presserat per Gericht einen Maulkorb zu verpassen.
Jüngstes Beispiel dafür ist die Zeitschrift "Öko-Test", immerhin selbst ein publizistisches Organ mit einigem moralischen Wind in den Segeln, das wohl damit nicht "richtig gut leben" konnte, 2004 vom Presserat wegen eines Verstoßes gegen die journalistische Sorgfaltspflicht bei einem Test anonymer Vaterschaftstests missbilligt worden zu sein. Das Landgericht Bonn und das Oberlandesgericht Köln, die "Öko-Test" anrief, erteilten der Zeitschrift eine klare Abfuhr - obwohl das Oberlandesgericht Frankfurt am Main den beanstandeten "Öko-Test"-Bericht immerhin als rechtmäßig eingestuft hatte. Presseethik und -recht sind eben zweierlei und die ethische Missbilligung ist bloß eine zulässige Meinungsäußerung, befanden die Kölner Richter zu Recht.
Die ethischen Ansprüche des Presserats dürften auch höher sein als die rechtlichen. Beeindruckt hat das "Öko-Test" wohl nicht sonderlich. Jedenfalls hat der mittelbar mehrheitlich der SPD gehörende Verlag jetzt erneut, nunmehr in Frankfurt am Main, gegen eine öffentliche Rüge aus dem Sommer 2006 geklagt. Die Rüge hat das Blatt mit der Begründung bekommen, die Redaktion habe in einem Testbericht auf einen Krebsverdacht bei Neurodermitis-Cremes für Kleinkinder nicht deutlich genug hingewiesen, diese vielmehr durch gute Noten empfohlen und zudem eine nur für Erwachsene zugelassene Creme als für Kleinkinder geeignet dargestellt hat.
Als "willkürlich" kritisiert "Öko-Test"-Chefredakteur und Geschäftsführer Jürgen Stellpflug die Presseratsrüge, weil es seiner Ansicht nach keine Möglichkeit gebe, sich davor zu schützen. Stellpflug bemängelt insbesondere, dass eine presseratsinterne Berufungsinstanz gegen die Entscheidung eines der Beschwerdeausschüsse fehle. Außerdem sei die Rüge ein "Revanchefoul", weil "Öko-Test" sich seinerzeit gegen die Missbilligung gerichtlich gewehrt habe. "Öko-Test" will das Verfahren daher jetzt durch alle Instanzen tragen - bis zum Bundesverfassungsgericht.
Nicht nur in den eigenen Reihen der Journalisten und Verleger ist die Resonanz auf eine selbstkritische Berufsethik derzeit recht beschränkt. Wohl anders als in seinen jungen Jahren findet der Presserat auch in Politik und Justiz nicht mehr das Gehör, das er sich wünscht. "Die Gerichte und die Politik vertrauen nicht den Selbstreinigungskräften der Medien. Stattdessen setzen viele auf immer schärfere Gesetzgebung", sagte Presserat-Geschäftsführer Lutz Tillmann jüngst der Tageszeitung "Die Welt". In der Tat hat der Presserat weder den neuen Paragrafen 201 a des Strafgesetzbuchs (StGB), der den höchstpersönlichen Lebensbereich unter strafrechtlichen Schutz stellt, noch den just beschlossenen Stalking-Straftatbestand des Paragrafen 238 StGB so abzuschwächen, dass recherchierende Journalisten davon zweifelsfrei nicht erfasst werden.
Wenn der Presserat sich historisch zugute hält, durch Selbstkontrolle staatliche Fremdkontrolle und in den 1950er-Jahren ein Bundespressegesetz verhindert zu haben, ist dies nur die halbe Wahrheit. Die Lücke, die das seinerzeit verhinderte Gesetz hinterließ, haben insbesondere die Zivilgerichte durch eine freie und zuweilen eigensinnige Auslegung zivilrechtlicher Generalklauseln im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung längst gefüllt. Da allerdings kommen die Medien derzeit kaum besser weg: Jedenfalls in den häufig von "Medienopfern" angerufenen spezialisierten Pressekammern in Hamburg und Berlin dürfte sich angesichts notorischer Persönlichkeitsverletzungen mancher Blätter wohl innerlich viel Unmut über so viel Borniertheit aufgestaut haben.
Wenn selbst wiederholte Verurteilungen durch die Gerichte keine Wirkung zu haben scheinen, fällt der bigotte Ruf mancher Prominentenanwälte nach immer härteren Sanktionen auch dort wohl auf durchaus fruchtbaren Boden. Vom Presserat mit seinen beschränkten Sanktionsmöglichkeiten zu fordern, dies zu verhindern, hieße, ihn zu überfordern. Im Publikum und bei den Gerichten gewänne der Presserat sicher an Akzeptanz, wenn Rügen an derselben Stelle und genauso groß abgedruckt werden müssten, wie das von Gesetzes wegen bei Gegendarstellungen und Richtigstellungen schon heute wie der Fall ist. Das um der Aussicht auf moralischen Autoritätsgewinn Willen auf sich zu nehmen, sind die deutschen Verleger aber mehrheitlich noch nicht bereit.
Der Autor ist Jurist und Lehrbeauftragter an der Humboldt-Universität Berlin.