Ende November machten Publikationen über eine neue Art des Lügendetektors Schlagzeilen in den deutschen Medien. Amerikanische Firmen wollen mit Hilfe von functional magnetic resonance imaging (fMRI), dem derzeit dominierenden bildgebenden Verfahren zur Messung neuronaler Aktivität im menschlichen Gehirn, "objektiv" nachweisen, ob jemand eine Falschaussage macht, ob jemand lügt. Diese Bemühungen basieren auf wissenschaftlichen Studien, in denen mit 90-prozentiger Sicherheit Hirnaktivitätsmuster von Probanden in unterschiedlichen Testsituationen unterschieden werden konnten, einmal wenn sie logen, einmal wenn sie die Wahrheit sagten. Dass man in einem so einfachen Test unterschiedliche Aktivitätsmuster messen kann, ist durchaus interessant. Was man daraus ablesen kann, ist jedoch eine andere Frage.
Abgesehen davon, dass man zehn Prozent der Testpersonen bereits in dieser simplen Testsituation falsch einschätzen würde - und eventuell ungerechtfertigter Weise aburteilen würde - muss man sich bewusst machen, dass hier lediglich Änderungen in der Durchblutung bestimmter Hirnregionen gemessen werden. Diese Ergebnisse sind rein deskriptiver Natur und erklären zwar, dass, nicht aber, warum Aktivität zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort erhöht ist.
Bei der Interpretation geht man von einer sehr einfachen Prämisse aus: Mehr ist besser, mehr ist entscheidend. Diese Interpretation ist sicher nicht gänzlich unsinnig, aber vielleicht doch sehr einseitig und mit Sicherheit unvollständig. Tatsächlich gehen heute einige Kollegen davon aus, dass in so genannten "höheren Zentren" unseres Gehirns spezifische Verarbeitungsprozesse sogar eine Verminderung der Gesamtaktivität bewirken ("sparse coding"). Dann würde gelten: weniger ist "mehr". Eine eindeutige und schlüssige Interpretation von Daten wie den oben beschriebenen ist nur möglich, wenn man die neuronalen Aktivitäten auch verstanden hat - das ist aber bei komplexen Vorgängen wie etwa beim Lügen nicht der Fall. Zudem bleibt es bei Versuchen zu komplexen Problemen wie dem obigen natürlich völlig unklar, inwieweit die Versuchssituation selbst oder die Auswahl der Probanden die Ergebnisse beeinflusst. Konkret bleibt in diesem Fall offen, wie die Aktivierungsmuster statt bei Kollegen oder Studenten, bei gewohnheitsmäßigen Lügnern oder unter falschem Verdacht stehenden, ehrlichen Angeklagten aussehen würden. Trotz dieser offensichtlichen Probleme gehen die beiden Firmen davon aus, dass ihr Verfahren den - natürlich ebenso umstrittenen - klassischen "Lügendetektor" in den USA innerhalb der nächsten zwei Jahren ersetzen wird.
Wie ist so etwas möglich? Es wird ermöglicht durch eine euphorisch geführte Kampagne einiger Vertreter der Neurowissenschaften - und wichtig ist hier die Betonung auf "einiger" - die zweifellos erheblich zur allgemeinen Attraktivität der Neurowissenschaften und ihrer Beachtung in der Öffentlichkeit beiträgt, die aber letztlich nicht seriös ist. Sie basiert auf mangelhafter Darstellung der Grenzen der modernen neurowissenschaftlichen Methoden, dem weiten Interpretationsspielraum, den die durch sie gewonnenen Ergebnisse erlauben, sowie der Begrenztheit der notwendig aus ihnen zu folgernden Konzepte. Das soll keine Kritik an der Vorgehensweise der modernen Neurowissenschaften sein, denn schließlich ist das menschliche Gehirn die komplexes-te Struktur, die wir kennen. Sie zu verstehen ist die vielleicht größte Herausforderung der modernen Wissenschaft. Aber wir sollten die Kritikfähigkeit gegenüber der Begrenztheit unseres aktuellen Wissens nicht verlieren.
Die modernen Messmethoden ermöglichen uns faszinierende Einblicke in die Aktivität unseres Gehirns. Derzeit sind die nicht invasiven Methoden nur geeignet, Korrelate neuronaler Aktivität zu messen (zum Beispiel fMRI), oder sehr spezifische und in ihrer Bedeutung nicht wirklich verstandene Phänomene, wie beispielsweise Synchronizität neuronaler Entladungen (zum Beispiel im Elektroenzephalogramm, EEG) zu erfassen. Was die gemessenen Aktivitäten aber letztlich bedeuten, wie sie mit den Gedanken und Intentionen des Probanden in Verbindung stehen, das bleibt ungewiss. Auch wenn man der festen Überzeugung ist, dass es neuronale Aktivität ist, die Gedanken, Gefühle oder Intentionen hervorbringt, so bleibt es für den naturwissenschaftlich arbeitenden Neurowissenschaftler immer noch ein Rätsel, wie diese subjektiven Erfahrungen tatsächlich zustande kommen und - vielleicht noch wichtiger - ob, und wenn, wie sie sich auf die weitere Aktivität unseres Gehirns auswirken.
Letztlich sind wir immer noch Beobachter, die vieles in Beziehung setzen, aber wenig verstehen können - verstehen im Sinne einer Vorhersagbarkeit: Diese neuronale Aktivität bewirkt notwendigerweise dieses Gefühl, diesen Gedanken... Solange das so ist, kann kein seriöser Neurowissenschaftler ernsthaft eine Aussage über Fragen machen wie die, ob wir einen freien Willen haben, oder gar behaupten, unsere Gesellschaft müsse sich nach den neuen Erkenntnissen der Neurowissenschaften richten. Diese "Erkenntnisse" basieren auf Ergebnissen und Versuchsansätzen, die erheblichen Interpretationsspielraum lassen - die berühmten und kontrovers diskutierten Versuche von Benjamin Libet, die nach Aussage einiger Kollegen die Idee des freien Willen als Illusion enttarnt haben sollen, sind hierfür ein Paradebeispiel.
In seinen Versuchen forderte Libet die Probanden auf, innerhalb eines gegeben Zeitfensters einen von zwei zur Auswahl stehenden Knöpfen zu drücken. Zudem sollten sie auf einer Art Uhr den Zeitpunkt bestimmen, zu dem sie sich "entschieden" hatten zu drücken. Gleichzeitig wurden elektrische Potenziale in den prämotorischen Arealen der Hirnrinde gemessen, so genannte "Bereitschaftspotenziale", die typischerweise motorischen Handlungen vorausgehen. Überraschender Weise zeigte sich dabei, dass der von den Probanden angegebene "Zeitpunkt der Entscheidung" stets nach dem Beginn eines Bereitschaftspotenziales lag. Die nahe liegende Interpretation war deshalb: Das Gehirn hat längst entschieden, bevor ein Proband meinte eine Entscheidung getroffen zu haben. Die bewusste Wahrnehmung einer "Entscheidung" sei also in Wirklichkeit nur eine Interpretation dessen, was das Gehirn tut. Das Gefühl, frei zu Handeln, wäre demnach nur eine Illusion.
So einleuchtend die Libetschen Versuche auf den ersten Blick sein mögen, so problematisch ist ihre Interpretation. Zum einen wird die subjektive Wahrnehmung des Zeitpunktes einer Entscheidung mit objektiven Messungen vermischt - das ist in sich schon ein fragwürdiger Ansatz.
Wichtiger aber erscheint, dass in den Versuchen niemals Entscheidungen untersucht wurden, die auf Gründen basierten, sondern lediglich belanglose Handlungen, die weder vorausgeplant werden mussten, noch Konsequenzen für die Testperson nach sich zogen. Solange es keine überzeugenden neurowissenschaftlichen Versuchsansätze gibt, die auf Gründen basierende Entscheidungen quantifizierend untersuchen, solange können "harte" Aussagen für oder gegen die Existenz eines freien Willens neurowissenschaftlich nicht abgeleitet werden.
Die Diskussion zu Fragen wie der, ob wir einen freien Willen haben oder nicht, muss nach wie vor eine multidisziplinär geführte sein, denn noch (?) hat die Neurobiologie keine wirkliche Erkenntnis darüber, ob das Gefühl, frei handeln und Verantwortung für das eigene Tun übernehmen zu können, nur eine Illusion ist oder nicht.
Der Autor ist Professor für Neurobiologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.