Ein Bolzplatz, irgendwo in Berlin. Ein strahlender Sommertag, die Fußball-WM in Deutschland läuft gerade. Sechs Jugendliche, 13, 14 Jahre alt, spielen mit dem Ball. Irgendeiner schreit plötzlich: "Ich möchte Jürgen Klinsmann sein." Klinsmann! Der Teamchef, Boss der deutschen Nationalmannschaft! Ein Trainer also. Unglaublich, oder hat man jemals gehört, dass junge Fußballer schrieen: "Ich möchte Berti Vogts sein"? Oder, schlimmer noch: Erich Ribbeck? Klinsmann also, der taugt doch geradezu ideal als Vorbild. Jung, smart, gut aussehend, erfolgreich, auch in der Niederlage souverän, keiner dieser Selbstdarsteller, einer der Werte propagiert und so sehr von seinem bodenständigen Vater schwärmt. Wenn Jugendliche Klinsmann sein wollen, ist das nicht ein Zeichen dafür, dass Fairness und Respekt zu wieder Orientierungspunkten für Talente werden?
Stimmt schon, zumindest bis diese Jugendlichen "Deutschland, ein Sommermärchen" sehen. Den Kinofilm von Sönke Wörtmann, die Szenen aus dem Innenleben der Nationalmannschaft bei der WM. Und mittendrin Klinsmann, ganz unverstellt. Der tönt aufgeputscht vor einem Spiel: "Die klatschen wir an die Wand." Er wird bestimmt noch viel deutlicher, viel schärfer geworden sein, aber das hat Wortmann rausgeschnitten. Egal, wer diesen Klinsmann erlebt, weiß, dass es bei ihm auch nicht anders zugeht als bei jedem Kreisliga-Trainer, der seine Spieler mit markigen Sprüchen eindeckt. Und die rausgeschnittenen Sprüche kann sich jeder selber denken.
Wer keimfreie Vorbilder sucht, jene strahlende Botschafter von Fairness, Ethik und Moral, der bastelt sich am besten am Reißbrett eine eigene Welt. In der kann er wunderbar so hässliche Begriffe wie Doping, Unfairness, Psychotricks und Betrug ausblenden. Die echten Vorbilder, die Idole von Millionen Fans, leben in einer anderen, in der realen Welt. Die ist rau, brutal und mitunter skrupellos. Es ist die Welt des Hochleistungssports.
Wer dort angekommen ist und sich hält, der verfügt über extremen Ehrgeiz, enorme Willenskraft und große Leidensfähigkeit. Und über ausgeprägten Egoismus. Ohne diese Punkte wäre er nie nach oben gekommen. Aber der Weg dorthin führt über Schmerzen, Verzicht und bittere Rückschläge. "Training ohne Schmerzen gibt es nicht", sagt der Schwimm-Weltmeister und Arzt Mark Warnecke. Jörg Hofmann, vierfacher Schwimm-Europameister, ging auch mit gegipstem Unterarm ins Wasser. Er hatte einfach eine Plastikhülle um seine Schiene gemacht. Boris Becker lag nach einem Sieg als 18-Jähriger morgens mit Blutblasen und Schmerzen in seinem Hotelbett in Chicago, als sein damaliger Trainer Günter Bosch die Decke wegzog und "Ab zum Training" befahl. Abends gewann Becker sein nächstes Spiel, aus den Schuhen quoll Blut. Die Eiskunstlauf-Vizeeuropameister Aljona Sawtschenko und Robin Szolkowy aus Chemnitz trainieren zeitweise acht Stunden täglich. Und ein früherer Teamarzt des Fußball-Bundesligisten Hertha BSC sagte mal: "Die Profis gehen in einem Zustand aufs Feld, da würden wir nicht mal unsere Frauen zum Einkaufen begleiten."
Wer so denkt, lebt und arbeitet, für den ist der Kampf um den größtmöglichen Vorteil gegenüber dem Gegner nur Teil des Konkurrenzkampfes. Der alltägliche High Noon: Er oder ich. Sicher gibt es Gesten des Fairplay. Als Radprofi Jan Ullrich bei der Tour de France mal auf den unverschuldet gestürzten Erzrivalen Lance Armstrong wartete, da war das eine solche Geste. Aber es sind ritualisierte, kleine Symboliken, reserviert für den Extremfall. Boris Becker arbeitete tausendfach mit Psychotricks, er verzögerte den Aufschlag, provozierte den Gegner, es war für ihn Teil des Spiels. Schwimmer werden vom Trainer mit klarem Auftrag auf den Startblock geschickt: Provoziere deinen Gegner zu einem Fehlstart. Im Stabhochsprung verlegen Athleten immer wieder mal Anlaufmarkierungen der Gegner.
Und natürlich gibt es die berühmten "Trash Talker". Mannschaftsspieler, die nur eine einzige Aufgabe haben: Den Gegenspieler so lange zu beschimpfen, zu provozieren und zu beleidigen, bis der die Nerven verliert und entweder zuschlägt oder sich nicht mehr aufs Spiel konzentrieren kann. In der nordamerikanischen Eishockey-Profiliga NHL wollen "Trash Talker", dass der andere zuschlägt. Dann erhält er eine Zwei-Minuten-Strafe. Die besten von ihnen sind enorm populär. Und die Jugendlichen lieben sie. Es sind Idole.
Zinedine Zidane hätte einen Kontrapunkt setzen können. Er hätte als das ehrenwerte Vorbild schlechthin in die Geschichte eingehen können. Zidane, der Fußball-Superstar, der Frankreich zum Welt- und Europameistertitel geführt hat. Der bescheidene Mann aus einem Vorort von Marseille, Sohn algerischer Einwanderer, der selbst bei Real Madrid ein bescheidenes Häuschen und keine protzige Villa bewohnte. Und der jahrelang mit seinem besten Freund, einem Müllmann, in Urlaub fuhr.
Dieser Zidane rammte in seinem letzten Spiel, dem WM-Finale in Deutschland, im Stil eines Torero seinen Kopf in den Unterleib des Italieners Marco Materazzi. Der Italiener hatte ihn wüst beleidigt, kurz vor seinem Karriereende konnte sich Zidane nicht mehr beherrschen. Ein Mythos war zerstört. Oder zumindest angekratzt. Andererseits: Das Vorbild Zidane war nicht mit dem Kopfstoß begraben worden. Der Mittelfeldstar dient weiter als Vorbild, allerdings auf tragische Art. Seit der WM rammen unzählige französische Jugendfußballer ihren Kopf in den Bauch ihres Gegenspielers, immer verbunden mit der Erklärung, der andere habe die Mutter, den Vater oder die Schwester beleidigt.
Die Grenzen verschwimmen, was ist Unrecht, was ist erlaubt im Kampf um den Erfolg? Doping? Offiziell natürlich nicht. Aber Sportler mit Tunnelblick, die im Kopf alle Qualen haben, die sie für ihren Sport bringen, die sehen Doping oft genug als normalen, weiteren Schritt auf dem Weg zum Erfolg. "Da kommt dann auch ein sportlicher Gedanke auf: Werde ich erwischt oder trickse ich die Fahnder aus?", sagt der Berliner Mentaltrainer Hartwig Marx, der viele Hochleistungssportler betreut. Ein Wettbewerb der besonderen Art, ein neuer Kitzel. Außerdem: Die anderen machen es doch auch.
Die Flut von Dopingfällen stumpft auch die Fans ab. Einerseits gerät nun jeder Star automatisch unter Verdacht, andererseits bekommen Jugendliche immer stärker den Eindruck, dass es ohne verbotene Mittel offenbar gar nicht mehr geht. Jan Ullrich? Schluckte vor wenigen Jahren Amphetamine, Aufputschmittel. Ein Dopingfall, sechs Monate Sperre. Für viele blieb er danach ein Vorbild, sagt ein Kölner Jugend-Radtrainer. Aufputschmittel. Das kennen sie, das werfen sich ihre Kumpel schließlich auch regelmäßig ein, wenn sie in die Disco gehen. Erst seit Ullrich im Verdacht stehe, Teil des Dopingnetzwerks des spanischen Arztes Eufemiano Fuentes zu sein, werde er eher irritiert betrachtet, sagt der Trainer.
Aber Sportler sind auch Gefangene eines irrwitzigen Systems. Dieses System zwingt sie noch stärker, zu unfairen Methoden oder gar Dopingmitteln zu greifen. In diesem System sind Fans, Funktionäre, Sponsoren und Journalisten miteinander verhakt. Einer wie Jan Ullrich gilt als Verlierer, wenn er bei der Tour nur Zweiter wird. Athleten, die bei Olympia keine Medaille gewinnen, werden in den Boulevardzeitungen als Touristen verhöhnt. Die Funktionäre haben ohnehin nur ihren Medaillenspiegel im Kopf, denn von den Erfolgen hängt ab, wie viele Fördergelder sie bekommen werden. Deshalb orientieren sich in Deutschland Olympia-Qualifikationsnormen in einigen Sportarten an der jeweils aktuellen Weltrangliste. Nur führen die oft genug Athleten an, in deren Heimatländern unangemeldete Dopingkontrollen so selten sind wie Tannenbäume in der Antarktis.
Aber wo sollen Vorbilder denn überhaupt wirken, wenn selbst in einem eigentlich eher unverdächtigen Bereich betrogen wird? Einer der bemerkenswertesten Dopingfälle im deutschen Radsport der vergangenen Jahre war der des Werner Rogosenski vom Velo Club Wattenscheid. Er flog bei einer Deutschen Meisterschaft auf, gedopt mit dem Anabolikum Metenolon. Einer Seniorenmeisterschaft. Rogosenski war 63 Jahre alt.