War da was? Diesen Sommer? Mit "dem Jürgen"? Mit "Klinsi"? Mit Klinsman", der wo gesagt hat: "Wir sind die, die wo gewinne wollet!" Jetzt macht's "der Jogi". Sieben Spiele, sechs Siege. Rekord! Besser als Sepp Herberger, besser als Helmut Schön - und als Jürgen Klinsmann sowieso... Warum also diese Elogen auf den blonden Bäckersohn aus dem Schwäbischen mit Wohnsitz im kalifornischen Huntington Beach, der in diesem Sommer fast wie ein Messias gefeiert wurde? Der die Deutschen in jenen WM-Tagen fröhlich sein ließ und unbeschwert. Der eine Woge kollektiver Euphorie auslöste, die an-schwoll zu einem Tsunami in schwarz-rot-gold, der das Land überflutete, auf dass jede Fußgängerzone, jeder Marktplatz zwischen Flensburg und Garmisch zur Partymeile mutierte.
Hartz IV, Arbeitslosenquote, Mehrwertsteuererhöhung, Staatsverschuldung, Bildungsmisere, Gesundheits- und Rentenreform - spielte alles keine Geige mehr. War weggeschwemmt durch ein 1:0 gegen Polen in der Vorrunde, von einer Mannschaft, die alle überraschte mit ihrer Leistung, mit ihrem Erfolg. Von einer Mannschaft, die er geformt hat: Jürgen Klinsmann Superstar - der große Motivator, der Muntermacher der Nation.
So einer muss doch Vorbild sein: Synonym dafür, dass nur der Erfolg hat, der alte Zöpfe abschneidet, der mutig nach vorne blickt. Aber ist Jürgen Klinsmann dieses Vorbild wirklich? Taugen er und der Erfolg seiner Mannschaft tatsächlich als Blaupause, die einem den Weg aufzeigt, wie man ein Ziel erreicht? Die erste Antwort lautet: Nein. Ein "Aus" in der Vorrunde oder im Achtelfinale - und aus dem "Sommermärchen" wäre ein "Sommeralbtraum" geworden. Klinsmanns Plan, seine Arbeit, seine Einstellung, seine Philosophie: All das, was bejubelt wurde, wäre mit Häme, Spott und Verachtung bedacht worden. Und all diejenigen, die schon nach der 1:4-Klatsche in der Vorbereitung gegen Italien, nach der Torhüterentscheidung (Lehmann anstatt Kahn) oder spätestens bei der Nominierung des WM-Kaders (Odonkor anstatt Kuranyi) getönt hatten, "Klinsmann ist völlig aus der Spur und total überfordert", hätten sich am Stammtisch rechthaberisch auf die Schenkel geklatscht.
Die zweite Antwort lautet: Ja. Denn Klinsmann hat gezeigt, wie man ein Ziel gemeinsam erreichen, den Weg aus der Mittelmäßigkeit finden kann. Und zwar mit Mitteln, die so einfach wie althergebracht sind. Wie mit Vertrauen. Er machte seinen Spielern deutlich, sie erhalten von ihm und seinem Stab jegliche Unterstützung, wenn sie im Gegenzug dazu bereit sind, an ihre Leistungsgrenze zu gehen. Er gab ihnen das Gefühl, nicht für ihn, den Bundestrainer, trainieren sie, sondern für sich. So wie er für sich die alleinige Verantwortung für Entscheidungen reklamierte, so sollte jeder Spieler Verantwortung für sein Verhalten übernehmen. Oder mit Begeisterung. Damit ist nicht einer seiner Kabinensprüche gemeint, wie "das lassen wir uns nicht nehmen, und schon gar nicht von diesen Polen". Vielmehr vermittelte Klinsmann den Spielern vor allem eines: Sie können dieses Spiel nur erfolgreich spielen, wenn sie es mit Liebe und Leidenschaft spielen. Wenn in der Mannschaft nicht die Eitelkeit dominiert, diese kleine Schwester der Dummheit, sondern der Respekt vor der Leistung des Mitspielers. Klinsmann forderte Mut und Entschlossenheit. Denn wer ängstlich und zaudernd, mit den eigenen Unzulänglichkeiten hadernd, in einen Wettkampf geht, kann ihn aus eigener Kraft nicht gewinnen. Dass man ihn trotzdem verlieren kann - wie im "Sommermärchen" gegen Italien geschehen - liegt in der Natur des Sports. Und trotzdem kann man ein Sieger sein.
Wer aber, bitteschön, soll, wer kann nun vom Vorbild Klinsmann lernen? Politiker, damit sie nicht mehr eine von Lobbyisten diktierte Politik als die ihrige verkaufen? Manager, damit ihnen ihre Arbeiter und Angestellten wieder vertrauen und sich nicht mehr als Rationalisierungspotenzial und Kostenfaktor fühlen? Lehrer, damit sich gelangweilte Schüler nicht mehr nur für die hipsten Computerspiele oder die nächste Party am Wochenende interessieren, sondern den Sinn von binomischen Formeln erkennen oder wissen wollen, was die Französische Revolution auslöste? Eltern, damit ihre Sprösslinge erkennen, dass sie selbst für das verantwortlich sind, was sie tun, dass es Mut oder Leidenschaft erfordert, sich Herausforderungen zu stellen? War da was? Diesen Sommer?
Der Autor ist freier Journalist in Leutkirch.