Seit Menschengedenken gehören Moral und Politik in Bayern zusammen, und zwar dergestalt, dass die führenden Politiker des Landes moralische Werte als viel zu kostbar erachten, um mit ihnen das Alltagsgeschäft zu bestreiten und sie womöglich zu beschädigen. Es ist also allein die tief empfundene Ehrfurcht vor dem Sittengesetz, die bayerische Minister dazu bringt, gelegentlich gegen dasselbe zu verstoßen - was das Gewissen der Betreffenden, den guten Absichten zum Trotz, selbstverständlich schwer belastet. Genau für diese Ausnahmefälle gibt es zur Fastenzeit die Bußpredigt auf dem Münchner Nockherberg. Dabei handelt es sich um ein seelisches Reinigungsbad, dessen nahezu mystische Wirkung nicht zuletzt dem Starkbier zu verdanken ist, das hier das Wasser ersetzt. Am Ende des im Übrigen sehr strengen Rituals, das der Brauereichef mit einer lateinischen Huldigung an den "Princeps optime" vulgo Ministerpräsidenten einleitet, steht das so genannte Nockherberg-Paradoxon, demzufolge derjenige der Gewinner ist, den der Bußprediger am härtesten für seine Sünden herangenommen hat. Das erklärt auch, warum die bayerische Staatsregierung stets gestärkt aus dem Büßertreffen hervorgeht.
Uneingeweihte halten die Salvatorprobe für eine Reklameveranstaltung der Paulaner-Brauerei, was zwar stimmt, aber trotzdem schärfstens zurückgewiesen werden muss. Selbst Sozialdemokraten geben mittlerweile zu, dass es sich bei dieser Freibierverkostung um einen krypto-offiziellen Staatsakt handelt, den zu schwänzen sich kein Mitglied der bayerischen Staatsregierung erlauben dürfte - andernfalls droht die Zwangsversetzung nach Berlin. Welche Wunder von der Bußpredigt ausgehen, lehrt der Fall Gerhard Schröder, der 1998 persönlich der Salvator-Rede beiwohnte und noch im selben Jahr Bundeskanzler wurde. Danach ward er nie wieder auf dem Nockherberg gesehen, und nicht wenige politische Beobachter führen seine spätere Abwahl auf eben diese Abstinenz zurück. Andererseits ist Guido Westerwelle fast immer dabei, und trotzdem steht seine Kanzlerschaft noch aus.
Was die Bußpredigt selbst betrifft, so ist sie Sache eines gewissen Bruders Barnabas, der aber ebenso wenig ein Mönch ist wie das Paulaner-Wirtshaus ein Kloster. Vor knapp drei Jahren hat der Kabarettist Bruno Jonas den Job übernommen, der zu den heikelsten in Bayern zählt, weil es darum geht, möglichst "hinterfotzig" zu sein. Im Idealfall läuft es darauf hinaus, dass der von der geistlichen Philippika getroffene Politiker gar nicht weiß, warum der ganze Saal über ihn lacht. Erfahrene Nockherberg-Pilger wie Edmund Stoiber lachen in so einem Moment einfach mit, wohl wissend, dass die angesprochenen Sünden damit auch erledigt sind.
Protestantische Zerknirschung wäre vollkommen fehl am Platz, ganz zu schweigen von dynamischen Formen des Beleidigtseins, wie sie 1982 der damalige bayerische SPD-Chef Helmut Rothemund vorführte, der den Bruder Barnabas als "Arschloch" beschimpfte, weil er, Rothemund, in der Bußpredigt selbst nur als "Herr Dings" vorkam.
Diese Missachtung der ehernen Gesetze des "Derbleckens", das auf die Spottverse dörflicher Gstanzlsänger zurückgeht, hat viel dazu beigetragen, dass Bayern und die Sozialdemokratie noch heute als zwei absolut inkompatible Phänomene gelten. Dabei wären die meisten Politiker, beispielsweise der aktuelle bayerische SPD-Vorsitzende froh, wenn sie wenigstens als "Herr Dings" in der Fastenpredigt Erwähnung fänden. Denn es gibt nichts Schlimmeres, keinen demütigenderen Nachweis der Unwichtigkeit, als bei der Moralpredigt unerwähnt zu bleiben. Wer aber infolge seines umfangreichen Sündenregisters ausgiebig ins Gebet genommen wird, erwirbt als "varreckta Hund" größte Hochachtung und darf weitermachen wie bisher. Ob es stimmt, dass einige bayerische Kabinettsmitglieder nur wegen der Bußpredigt in jedes Fettnäpfchen treten, ist allerdings nicht erwiesen.
Der Autor ist Redakteur der "Süddeutschen Zeitung" in München. Im August 2005 erschien sein Buch "Der Prinzregent, die Schöne und das Bier. Münchner Umtriebe".