Furcht und Mitleid sind auf der Bühne kein Thema mehr. "Im Theater gewesen. Geweint." Unwahrscheinlich. Höchstens eine völlig verunglückte Vorstellung treibt einem das Wasser in die Augen. Anders der Film. Wenn in Shakespeares "Titus Andronicus" direkt vor unseren Augen das Blut literweise über die Bühne fließt, wissen wir: Ist ja bloß Farbe. Wenn Lavinia die Zunge herausgerissen wird, sehen wir: Die spielt ja bloß. Sturzbetroffen dagegen verlässt man das Kino, wenn einem Steven Spielberg mit "Der Soldat James Ryan" (1998) eine mit Filmblut getränkte herzzerreißende Glorifizierungsstory aus dem Zweiten Weltkrieg erzählt. Es gehört zu den seltsamen Widersprüchen dieser Medien, dass uns das Leiden auf der Leinwand tausendmal realer erscheint als das auf der Bühne.
Die ästhetische Konstruktion der Realität im Film ist nicht zu überbieten. Im vergangenen Jahr haben in Deutschland 33,2 Millionen Zuschauer ein Theater besucht, aber 157 Millionen ein Kino. Film ist ein Massenmedium und damit viel effektiver, um Normen zu verbreiten und Botschaften vom "richtigen" und vom "falschen" Handeln zu transportieren. Revolutionäre, Diktatoren, Weltverbesserer wissen das zu nutzen.
Nicht nur der russische Revolutionsfilm mit seinem prominentesten Vertreter Sergej Eisenstein, auch die Gründung der deutschen Ufa im Jahre 1917 ist ein gutes Bespiel für den Zusammenhang zwischen Film und Propaganda. Im Film wird ein bestimmtes Ideal verbreitet und damit vorgegeben, was moralisch ist und was nicht. Es war ein Soldat, der die Wirkmacht des neuen Mediums erkannte und den Film einsetzte, um die "Moral an der Heimatfront" zu stärken. General Ludendorff machte mitten im Krieg 25 Millionen Reichsmark locker, um eine Filmgesellschaft zu gründen. Einer der ersten Ufa-Filme hieß "Das Vaterland ruft".
Das Perfide daran: Die Beeinflussung durch die Vermittlung bestimmter Weltbilder und Handlungsmaximen muss nicht im Kleid der plumpen Propaganda daherkommen. Joseph Goebbels, der "Minister für Volksaufklärung", setzte auf Lenkung durch Ablenkung. Komödien, Musikrevuen, Melodramen waren angesagt, um die "Moral aufrechtzuerhalten". Als die Welt schon in Trümmern lag, sang Zarah Leander unerschütterlich "Davon geht die Welt nicht unter". Selbst ein so harmloser Streifen wie die bis heute beliebte "Feuerzangenbowle" mit Heinz Rühmann aus dem Jahr 1944 verweist auf das Wertesystem des Nationalsozialismus: Der nette "Pfeiffer mit drei F" stellt die alten Autoritäten nicht in Frage, er kratzt nur ein bisschen an ihrem Image. Oberlehrer Brett ist für ihn sogar "ein feiner Kerl". Diese Figur gibt's in Spoerls literarischer Vorlage übrigens nicht. Sie wurde hinzugefügt, bewusst. Der "feine Kerl" steht für die Ideale der "neuen Zeit". Sein Erziehungskonzept lautet: "Disziplin muss das Band sein, das die Jungen bindet - zu schönem geraden Wachstum." Die moralische Rückwärtsgewandtheit wird auch anderer Stelle noch einmal deutlich: Marion, die elegante, selbstbewusste Freundin aus der Großstadt, hat am Ende keine Chance gegen Eva, die Unschuld aus gutem Hause.
So ist der Film bis heute. Frauen haben sittsam zu sein. Das heißt: dem Mann dienen, nicht aufmucken, lieb sein. Weiblicher Leichtsinn wird nur solange geduldet, wie er die Männer entzückt. Sonst wird Papa böse. Die britische Filmtheoretikerin Laura Mulvey untersuchte in ihrem Aufsatz "Visuelle Lust und narratives Kino" (1973) als eine der ersten das Frauenbild im klassischen Hollywood-Kino und stellte fest: Das weibliche Rollenbild ist von Männern gemacht. Stärke durften die Frauen lange Zeit nur zeigen, wenn es darum ging, ihre angeblich ureigenste Welt, die Familie, zu retten.
Bis heute propagieren die großen Hollywood-Produktionen ein erstaunlich konservatives Frauenbild: Selbst die Unangepassten finden ihr Heil am Ende nur in den Armen von Mr. Right: Sally ist erst glücklich, als sie Harry bekommt. Für "Pretty Woman" kommt die Erlösung in Gestalt eines schönen Millionärs. Die ambitionierte Andy (Anne Hathaway) in "Der Teufel trägt Prada" kehrt der Glitzerwelt der Mode den Rücken zugunsten eines netten Journalisten-Kollegen. Dass ihre Chefin, Karrierefrau Miranda Priestley, eine schrille Zicke ist, versteht sich von selbst. Kämpferinnen wie Karen Silkwood oder Erin Brockovich sind noch immer die Ausnahme in Hollywood.
Die Heldenrolle kommt bis heute überwiegend Männern zu. Sie führen den uramerikanischen Traum vom Aufstieg aus eigener Kraft vor. Matt Damon spielt in "Good Will Hunting" einen vorbestraften Jungen aus der Bostoner Vorstadt, der ein Mathe-Genie ist. Dank seines eisernen Willens und eines verständnisvollen Psychologen schafft er es vom abgehängten Prekariat bis zur Uni. Biografien außerordentlicher Lebensläufe eignen sich bestens, um solche Märchen zu erzählen. Die so genannten Biopics haben gerade wieder Konjunktur, wie Filme über Howard Hughes ("Aviator") oder Ray Charles zeigen. Helden sind Garanten der Moralität. Sie retten Leben und ganze Länder. Waren sie früher immer weiß und männlich, dürfen im Zeichen der political correctness heute auch schon mal Schwarze, Juden und Asiaten darunter sein. Die deutschen Hollywood-Regisseure Roland Emmerich und Wolfgang Petersen erweisen sich hier als 200-prozentige Amerikaner: Alle stehen zusammen, wenn es gilt, God's own country gegen Terroristen und andere Menschheitsgeißeln zu verteidigen.
Kein Filmgenre aber propagiert die Moralvorstellungen Amerikas so unverstellt wie der Western. Im Kampf um Land und Freiheit geht der Held über Leichen, meist die von Indianern. Einsam zieht er seiner Wege, Frauen warten wohlfrisiert und hochgeschnürt auf seine Rückkehr, beharken das karge Land und hüten die Kinder oder lassen im Salon überm Saloon das Badewasser ein, um dem müden Kämpfer ein zivilisiertes Aussehen zu verpassen. "Der Western ist amerikanische Geschichte", hat der US-Kulturhistoriker Richard Slotkin 1992 über die "Gunfighter Nation" geschrieben. Westernfilme haben das Bild und das Selbstbild Amerikas geprägt, auch wenn die schlichte Dramaturgie des Kampfes zwischen Gut (weiß) und Böse (Indianer, Revolverheld, Räuber) im Lauf der Zeiten etwas raffinierter wurde.
Mit Amerika alterten auch seine Helden. Die Filme John Fords ("Der Mann, der Liberty Valance erschoss"), Sam Peckinpahs ("Sacramento") oder Howard Hawks ("Rio Bravo", "El Dorado") markieren den Anfang vom Ende des ungebrochenen Mythos. Arthur Penns "Little Big Man" von 1970 zeigt den Kampf der Weißen gegen die Indianer als Völkermord - und transportiert so eine andere, eine gewandelte Moral. Doch die Bilder vom einsamen Rächer waren da schon längst in unseren Köpfen und dienten Generationen von jungen Menschen, vor allem Männern als Projektionsfläche für ihre Träume vom Erwachsenwerden und vom Sieg des Guten über das Böse. Die (Film-)Kunst imitiert das Leben. Am Beispiel der Western-Rezeption scheint auch der Umkehrschluss richtig: Das Leben imitiert die Kunst. Sei es Zufall oder Folgerichtigkeit - die Erfolgsserie der "Rambo"-Filme begann mit dem Amtsantritt des ehemaligen Cowboy-Darstellers Ronald Reagan. Und Präsident George W. Bush reagierte auf die Terroranschläge vom 11. September mit einem klassischen Western-Topos: "There's an old poster out West that said: ,wanted, dead or alive'." Der Mythos lebt.
Die Autorin ist Kulturredakteurin bei der "Schwäbischen Zeitung".