Gleiches könnte vielleicht auch für Heidelberg, Wiesbaden oder Paderborn gelten. Doch hier hat die Sache einen entscheidenden Haken: Für einen Fremden nämlich wird es nicht leicht sein, sich in deutschen Städten niederzulassen, um einmal auszutesten, ob man nicht vielleicht hier zu Hause sei.
Zwar herrscht auch in der Bundesrepublik seit geraumer Zeit Konsens darüber, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist; de facto aber ist es ein Einwanderungsland mit Anwerbestopp. Während Länder wie Kanada oder die USA längst ausgeklügelte Methoden entwickelt haben, um Migration als mannigfache Chance für die eigene nationale Entwicklung nutzbar zu machen, hat das Wort "Migration" in Deutschland noch immer ein negatives "Geschmäckle". Angst vor Überfremdung, vor Arbeitsplatzverlust oder vor der Auswaschung der eigenen Identität bestimmen hierzulande noch immer die Tagesordnung, wenn es um das Thema Zuwanderung geht. Nicht zuletzt die emotionalen Debatten um das im Jahr 2005 in Kraft getretene neue Zuwanderungsgesetz haben erneut gezeigt, wie schwer man sich in Deutschland mit dem Fremden tut. Der sei Jahren immer wieder angekündigte Paradigmenwechsel in dieser Sache ist trotz veränderter Rechtslage noch immer nicht vollzogen worden.
Eine namhafte Streiterin für eine liberale Zuwanderungspolitik ist bereits seit langer Zeit die einstige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth. Immer wieder hat sie sich in der Vergangenheit für einen Migrationsbegriff stark gemacht, der sowohl die Interessen der Zuwanderer, als auch die gewandelten Rahmenbedingungen der Aufnahmegesellschaften berücksichtigt. Ob als Vorsitzende der nach ihr benannten Süssmuth-Kommision, die im Jahr 2000 Eckpunkte für ein neues Zuwanderungsgesetz ausgearbeitet hat oder als Mitglied der von der UNO berufenen "Weltkomission für Migration": Süssmuths Anliegen ist es immer schon gewesen, den weltweit gut 200 Millionen Migranten Rechtsstrukturen an die Hand zu geben, die ihnen die Möglichkeit auf neue Heimaten geben können. Jetzt hat die engagierte Christdemokratin unter dem Titel "Migration und Integration: Testfall für unsere Gesellschaft" ein Buch vorgelegt, das neben der kenntnisreichen Schilderung der gegenwärtigen Faktenlage besonders durch eines besticht: eine Empathie gegenüber den Menschen und den Einzelfällen. In der politischen Debatte in Deutschland hat man diese leider allzu lange vermissen müssen. Hier aber geht es endlich nicht mehr um Abschottung oder um die Leugnung unaufhaltbarer globaler Entwicklungen. Vielmehr begreift die einstige Parlamentspräsidentin die weltweit anwachsenden Migrationsströme als einmalige Chance für unsere Gesellschaft.
"Migration", so die Kernthese dieses Buches, "ist mehr als ein Tatbestand. Sie ist Testfall für die Zukunftsfähigkeit einer jeden Nation." Denn nach Ansicht von Rita Süssmuth kann eine gesteuerte Migra- tionspolitik für alle Seiten zu einem Gewinn werden. Migranten erhielten Schutz vor Armut, Verfolgung oder Ausgrenzung, während die Aufnahme- und Durchreisestaaten mittels Arbeitskraft und Know-how ökonomische Gewinne erzielen könnten. Und selbst die Ausreisestaaten profitierten von einer Migration, die von politischer Seite gelenkt würde. Schließlich sind Flüchtlinge und Migranten nicht nur lebende Brückenelemente zwischen den Kulturen, sie können auch nachhaltige Entwicklungstransfers in die Wege leiten. So liegen nach einer von der Autorin zitierten Untersuchung von Weltbank und OECD allein die registrierten Banküberweisungen von Migranten in ihre Heimatländer für das Jahr 2005 bei annähernd 232 Milliarden US-Dollar. Das übersteigt nahezu den dreifachen Betrag der internationalen Entwicklungshilfe. Geht man zudem davon aus, dass ein weiterer Teil der geldlichen Transferleistungen die klassischen Finanz-institute schlicht ignoriert, dann ahnt man das Potenzial, das in dem Thema Aus- und Zuwanderung liegen kann.
Voraussetzung hierfür aber ist laut Süssmuth, dass Politiker wirklich gewillt sind, sich des Themas vorurteilsfrei anzunehmen. Gerade in der Bundesrepublik aber habe es hier jahrzehntelang ein Defizit gegeben. All zu lange habe man von sich selbst geglaubt, man sei lediglich Rotations- und nicht Einwanderungsland. Fremde kämen nicht, um zu bleiben, sondern um schon bald wieder in ihre Heimatländer abzureisen. Politisches Kalkül und populistische Ränkespiele hätten die Einwanderer in den toten Winkel öffentlicher Wahrnehmung abgedrängt. So konnte Migration in der Bundesrepublik keine "Win-Win-Situation" hervorbringen, sondern wurde zu einer immensen gesellschaftspolitische Niederlage. Und Verlierer, so Süssmuth, waren in Deutschland alle: die Migranten, denen man allzu oft den menschlichen Respekt verweigerte und die Aufnahmegesellschaft, die humane Ressourcen einfach ungenutzt in Gettos verelendenden ließ. Spätestens seit PISA hat es die deutsche Gesellschaft auch Schwarz auf Weiß: Dieses Land verweigert den Eingewanderten strukturell den sozialen Aufstieg. Einmal Fremder, immer Fremder.
Erst nach und nach erkennt man, dass Migration eine Möglichkeit sein kann, die Realitäten von morgen zu gestalten. Schließlich hat dieses Land Zukunftsprobleme genug. Da ist zum Beispiel die demografische Herausforderung: Ohne geregelte Zuwanderung, so weiß nicht nur Rita Süssmuth, werde die Bevölkerung in Deutschland von heute 82 Millionen Menschen auf 58 Millionen im Jahr 2050 absinken. Ebenso dringend: der Fachkräftemangel. Jahrzehntelanges Politikversagen, dass etwa darin bestanden hat, Abschlüsse und berufliche Titel von Zugewanderten in Deutschland nicht anzuerkennen oder ausländische Studenten unmittelbar nach Abschluss ihre Studiums auszuweisen, haben zu einer Art Flächenstilllegung der geistigen Landschaft geführt. Selbst das neue Zuwanderungsgesetz habe nach Meinung der Autorin hieran nicht wesentliches geändert. Im Bezug auf qualifizierte Fachkräfte halte sich Deutschland weiterhin verschlossen.
Für Rita Süssmuth ist all dies Ausdruck politischer Verantwortungslosigkeit. Klassische Einwanderernationen hätten längst vorgemacht, wie in gezielter Anwerbung ein entscheidender Schub für die Industriepolitik liegen kann. Wenn Deutschland sich weiterhin den Realitäten verweigert und lieber vom Kampf als vom Miteinander der Kulturen spricht, dann muss sich dieses Land bald einer ganz anderen Entwicklung in der Geschichte der Migration stellen. Unter dem "Rumgehuber" der Stammtische und der Fortschreibung von Vorurteilen hat man längst eine neue Wirklichkeit aus den Augen verloren. Deutschland wird zunehmend zu einem Auswanderungsland. Schon heute nimmt nicht nur die Zahl ausländischer Zuwanderer stark ab, es wandern auch längst mehr Deutsche aus als ein. In dieser Situation kommt Rita Süssmuths Weckruf vielleicht gerade noch zur rechten Zeit. Bleibt zu hoffen, dass man sich in Deutschland nicht einfach ein weiteres Mal umdreht, bis die Zukunft ganz verschlafen ist.
Rita Süssmuth, Migration und Integration: Testfall für unsere Gesellschaft. Deutscher Taschebuch Verlag, München 2006; 200 S., 12 Euro.