In dem kleinen Wort Migration stecken große Debatten. Wie viel Zuwanderung verträgt das Land? Wie bietet man Verfolgten Schutz, ohne sich ausnutzen zu lassen? Wie werden Zuwanderer integriert und welche Werte sind für alle verbindlich? Und kann Zuwanderung helfen, die Probleme der alternden Gesellschaft zu lösen? Inzwischen zeichnet sich ein Umdenken in Politik und Gesellschaft ab. Es geht mit der Erkenntnis einher, dass die meisten Migranten in Deutschland bleiben werden. Wer beim Thema Migration vor allem die Probleme in den Blick nimmt, sollte sich auch fragen, welche Menschen nicht mehr nach Deutschland kommen. Die Zahl der Zuwanderer ist stark rückläufig. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble brachte dies auf die bemerkenswerte Formel: "Wir haben in Deutschland mehr eine gefühlte Einwanderung." Hochqualifizierte und Selbstständige zieht es kaum in unser Land. Angesichts der globalen Konkurrenz ist das problematisch. Die Politik will deshalb jetzt die Hürden für Hochqualifizierte senken. Tanja Wunderlich vom German Marshall Fund of the United States schreibt in dieser Ausgabe: "Andere Nationen, etwa Kanada und die USA, haben das schon früher entdeckt, dass wir uns um die besten Köpfe durchaus Mühe geben müssen."
Aber wir müssen uns nicht nur um die Hochqualifizierten bemühen, sondern vor allem das Bildungssystem für die Migranten verbessern, die bereits hier leben. In Berliner Stadtvierteln wie Wedding und Kreuzberg wächst eine "abgehängte" Generation heran. Mehr Bildung und frühe Förderung könnten dies ändern. Jemand, der mehr weiß und versteht, wird nicht aus Angst seine Frau isolieren, seine Töchter zwangsverheiraten, seine Söhne nach archaischen Vorstellungen erziehen, die in schlimmen Fällen zur Straffälligkeit führen, worüber der Politikwissenschaftler Stefan Luft berichtet. Gleichzeitig muss bei der Integration der eigenen Herkunft Raum gelassen werden. Wie muslimischer Religionsunterricht an Schulen erfolgreich gelehrt werden kann, ohne dass "aus dem Ausland importierte Imame arabische Suren" predigen, beschreibt der "Zeit"-Redakteur Martin Spiewak.
Wanderungsbewegungen gibt es weltweit. Die größte Völkerwanderung lässt sich in China beo-bachten. "Bis 2020 rechnet die Unesco mit einem Anstieg der Migrantenzahl in China auf 300 Millionen", schreibt Georg Blume, Korrespondent der "Zeit" und "taz" in Peking.
Mehr als 150 Millionen Menschen weltweit leben als Migranten. Und es werden immer mehr. Die Beweggründe sind unterschiedlich. Manche Menschen fliehen vor Krieg und Verfolgung, andere aus wirtschaftlicher Not. Eine Geschichte vom Weggehen hat Rüdiger Maack vom Hessischen Rundfunk geschrieben. Karl Schlögel, Professor für die Geschichte Osteuropas, zeigt wiederum, wie Flucht und Vertreibungen des vergangenen Jahrhunderts Europas Gedächtnis mental prägen.
In Deutschland leben 15 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, die Hälfte von ihnen besitzt einen deutschen Pass. Unsere Aufgabe wird sein, ihnen Chancen zu bieten, die vor allem Bildungschancen sein müssen. Aber genauso gilt es, Tendenzen entgegenzutreten, die mit unseren Wertevorstellungen nicht vereinbar sind. Laut einer "Spiegel"-Meldung unterstützt die vom Verfassungsschutz beobachtete Organisation Milli Görus streng religiöse Frauen, die wegen des Kopftuchverbotes an türkischen Hochschulen nicht studieren dürfen, mit Stipendien, damit sie sich an deutschen Universitäten einschreiben können. Verkehrte Welt? Muss das, was in der laizistischen Türkei nicht erlaubt ist, in Deutschland hingenommen werden? Was sind unsere Werte? Und wie entschieden verteidigen wir sie? Die Frage, wo und wie weit Politik und Gesellschaft nicht nur fördern, sondern fordern müssen, wird die Diskussion der nächsten Zeit bestimmen.
Die Autorin ist freie Journalistin in Berlin.